Wenn das nicht richtig ist, möchte ich nie mehr richtig sein

Wettbewerbsbeitrag von Anna, 17 Jahre

Ich muss lachen, als ich diese armselige Gestalt im Spiegel sehe. Diese Person gegenüber jetzt auch noch lachen zusehen, verstärkt das nur. Als wäre ich ein Teenager, der seine Grenzen nicht kennt. Wortlos stelle ich meinem Gegenüber im Spiegel die Frage, die ich selbst nicht zu beantworten mag. Wie kann ich gut sein, wie kann ich richtig sein, wenn ich nicht weiß, was gut, was richtig ist? Das Spiegelbild glotzt nur fragend zurück. Ich wasche mir den Geschmack von Erbrochenem von meiner Zunge und versuche mein wildes Haar etwas zu zähmen, erfolglos verlasse ich die mit Graffiti voll geschmierte Toilette. Und stelle mich entschlossen der Menschenmasse an feiernden Leute. Die sich wie meine Sicht zur Musik auf der Tanzfläche drehen. Ich versuche meinen wankenden Gang mit zur Musik passenden Tanzmoves zu retuschieren, was mich wahrscheinlich nur noch unbeholfener wirken lässt. Dränge mich an erhitzten Körpern vorbei, bis ich endlich den rettenden Barhocker erreiche, auf den ich mich elegant, zumindest in meiner Vorstellung gleiten lasse. „Ein Wasser bitte“ ,rufe ich dem Barkeeper zu, das Lallen in meiner Stimme, kaum zu überhören. Ich lasse mein Kopf, der so schwer ist, wie irgendetwas sehr Schweres, was ich in meinem aktuellen Zustand nicht bestimmen kann, ein wenig zu heftig auf den Tresen fallen. Was zur Hölle tue ich hier eigentlich, Kummersaufen war doch noch nie mein Ding. „Alles klar bei dir?“, dringt in mein rechtes Ohr und fast auch wieder aus meinem linken Ohr raus. Doch die Frage macht kehrt, bevor sie den Ausgang passiert, denn es ist eine sehr heiße Stimme, die, als ich den Blick hebe, auch zu einer sehr heißen Person gehört. „Lucy richtig?“, fragt der Mund, dessen Lippen so weich wie Biskuit aussehen. Ich nicke und starre mit offenem Mund meine Kommilitonin an, die, wenn sich mein matschiges Gehirn nicht irrt, in Wissenschaftsethik zwei Reihen vor mir sitzt. „Und du?“, frage ich und versuche meine Gesichtszüge nicht erneut entgleisen zu lassen. „Karo“ sie nimmt mit ihren beringten Händen einen Drink entgegen und wendet sich lächelnd zu mir.
„Nicht so deine Woche gewesen?“ Ich nicke bedrückt und beginne vorsichtig an meinem Wasser zu schlürfen und versuche den sich langsam bildenden Tränen hinter meinen Augen zurückzuhalten und all den Scheiß, der in den letzten Wochen passiert ist und dieses durchdringende Gefühl, seit meinem Umzug völlig allein zu sein, zu verdrängen. Ich setze mir ein natürliches Lächeln auf mein müdes Gesicht und fokussiere meinen Blick. Er bleibt an ihrem Dekolletee hängen, das sich an den schwarzen Spitzenstoff schmiegt. Ich räusperte mich verlegen und hebe meinen Blick. Ihre Augen funkeln. Sie sehen aus wie ein Portal in eine andere Welt. Eine sehr viel buntere als meine. Eine leidenschaftliche und abenteuerliche. Ich reiße meine Gedanken am Riemen. Warum beginne ich das Leben dieses mir völlig fremden Mädchen so zu romantisieren. Ihr Mundwinkel zuckt, ihr ist die kaum zu übersehende Bewunderung, die ich ihr gegenüber habe, nicht entgangen. Ich fühle mich erneut und schon viel zu oft an diesem Abend, in diesem Leben, wie ein Trottel. Doch sie lächelt nur ein Lächeln, was mir alle Antworten auf all meine Fragen zu geben scheint, was mir seit langem zum ersten Mal wieder das Gefühl vermittelt, richtig zu sein.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Anna, 17 Jahre