Ich weiß nicht genau, was mich hergetragen hat. Zufall? Ein Funken Langeweile? Ein Hauch von Hoffnung?
Ein dumpfes Geräusch hallt durch den Empfang als ich meinen Rucksack neben die Theke fallen lasse. Ein paar Kilo Zukunftsängste und Was-soll-nur-aus-mir-werden, die grauen Sorgen, die Dose Fiese Mädchen, die schon seit Jahren tief unten verstaubt, eine Prise Angst, ein dickes Nicht-gut-genug und das Päckchen, von dem ich selbst nicht weiß, warum ich es mit mir herumtrage.
„Willkommen in der Wandelbar“, schnarrt die elektronische Stimme. „Treten Sie ein und nehmen sie ihr Gepäck mit.“
Meine Augen werden geblendet von Neonlicht.
Self-love affirmations kleben glitzernd an die Wand tätowiert. Und da! Brandneue Positive-Mind-Sets, die neben Yogaoutfits schillern.
Yogi-Tee-Sprüche flüstern von Samtkissenregalen und Duftkerzen preisen wohlriechend Chill-out und Hang-On.
Das ist es. Ein bisschen Mut, ein bisschen Hoffnung, eine Zuversicht.
Mark Twain und Carpe-Diem tanzen auf dem gefliesten Ziffernblattboden Walzer.
Morningroutine, Mindfulness-meditation, Me-time - die Stunden mit Workflow und Productivity füllen, aber Vorsicht vor den grauen Herren, während du deinen Träumen hinterherjagst.
Dahinter drehen sich Marionetten im Kreis.
„So toll, wie du deinen Rucksack trägst“, säuseln sie zwischen zwei Pirouetten. Die eine klebt rosa Herzchen auf mein Gepäck.
„Oh… Danke.“ Ich werde ein bisschen rot. „Aber eigentlich wollte ich ihn hier loswerden…“
Ihr Gekicher klingt nach Maschinenöl als sie sich abwenden und Mark Twains großartigen Tanzstil kommentieren und die süßen Hundewelpen, die am Rand des Raums übereinander kullern.
Ich gehe weiter. Von Vitrine zu Vitrine, von Bild zu Bild, von happy-heart zu survival-spirit…
Mein Rücken tut weh von dem spitzen Stück Selbstzweifel, das sich gegen meine Wirbelsäule bohrt, während ich allmählich jegliches Zeitgefühl verliere. Ich habe noch immer meinen Rucksack. Jetzt glitzert er und leuchtet im Dunkeln und kann drei Sprachen sprechen… aber schwer ist er noch immer. So schwer…
Schmetterlinge können ihre Flügel nicht sehen und Wenn das Leben dir Zitronen gibt schrillt in meinen Ohren.
Du bist, was du isst, aber gönn dir mal was Gutes. Mal Bathbomb-Me-time mit Soulfood in der Badewanne aus Selbstmitleid.
Zeit heilt alle Wunden, aber wie lange? Wie lange?
Die pastellfarbene Eieruhr für den kleinen Schmerz, der Apple-Weight-Watch-Fitness-Timer für den Großen?
Was ist, wenn alle Märchen Lügen erzählen? Die Prinzessin nie wachgeküsst, Rotkäppchen wurde vom Wolf verschlungen und Disney hat die Geschichten gekauft, um sie in Glitzer und geplatzte Träume zu stecken!
Ich presse mir die Hände auf die Ohren, während Body-positivity-Bunnys um mich herumtanzen und Love yourself schreien.
Genug!
Mit einem entschlossenen Ruck setze ich den Ruck-sack ab und kippe den Inhalt vor mir auf den Boden. Ein empörter Aufschrei klingt von den Affen herüber, die sich bis gerade eben Mund, Augen und Ohren zugehalten haben, während all das Hässliche, das Verletzliche, das Schwache zu Boden kullert. So viel Fehler, so viel Schmerz, so viel was-wäre-wenn und dazwischen all die Scherben…
Ich lasse mich auf die Knie sinken und sammle einige davon heraus. Vorsichtig, ganz vorsichtig setze ich sie aneinander.
Nichts. Es passiert nichts. Was hatte ich denn auch erwartet? Einen magischen Turning-point mit der bonbonfarbenen Botschaft ‚Alles wird gut‘?
„Kaaatsching!“
Ich zucke zusammen, als mit einem dumpfen Aufprall etwas Haariges vor mir landet. Es ist ungefähr so groß wie mein alter Teddy - und auch genauso struppig.
„W… wer bist du denn?“
Runde grüne Augen blinzeln mich an. „Die gute Fee - du darfst dir jetzt drei Wünsche wünschen“, kräht das Tierchen. Spitze Zähne blitzen auf, als es von einem gefleckten Ohr bis zum anderen grinst.
Sprachlos starre ich von dem Ding… zu der Scherbe… und zurück.
Es lässt sich auf den Rücken fallen und bricht in schallendes Gekicher aus. „Hihi! Reingefallen! Ich beobachte dich schon seitdem dich der Motivation-Man mit seinen Mood-Boostern beworfen hat.“
„Achja… das…“ Ich bin versucht, es ebenfalls damit zu bombardieren.
„Netten Rucksack haste da.“ Das Wesen stupst mit der Pfote gegen die Dose Fiese Mädchen.
„Lass das! Eigentlich wollte ich ihn hier loswerden…“ Ich klinge schon selbst wie eine Schallplatte.
„Hier?“ Kichernd rappelt es sich wieder auf. „Sieh dich doch mal um. Hier hat nichts mehr Tiefgang als ne Badeente und da soll all das reinpassen?“
„Hmpf…“ Ein bisschen beleidigt bin ich immer noch. „Und, gute Fee, wer bist du jetzt wirklich? Ist die Geschichte nicht schon ein bisschen zu weit fortgeschritten, um eine völlig neue Figur einzuführen?“
„Ein Troll. Vom Clan Internet.“ Den Troll scheint meine dramaturgische Besorgnis in keinster Weise zu beirren. Ein wenig verlegen kratzt er sich den dicken Bauch. „Aber man hat mich rausgeschmissen. War zu nett… naja… jetzt bin ich eben mal hier mal da. Manchmal in der Wandelbaar.“ Er grinst, deutlich begeistert über seinen furchtbaren Reim.
„Auf mich wirkst du nicht besonders nett.“
„Oh danke.“
„Das war kein Kompliment.“
Schulterzuckend kramt der Troll einen USB-Stick aus seinem Beutel und beginnt, daran herumzuknabbern. „Also was ist, räumst du dein Chaos mal wieder auf oder willst du hier weiter Trübsal blasen?“
Da ist sie wieder, die Verzweiflung. „Schau dir das doch mal an. Das ist einfach zu viel…“
„Na und? Schau dir das doch mal nicht mehr an.“ Er spuckt den Stick auf den Teppich. „Bäh… holzig…“
Ich funkle den Troll an. „Ich hab das Gefühl, du nimmst mich überhaupt nicht ernst. Du hast doch keine Ahnung, was… was das alles ist!“
„Nö, hab ich nicht. Aber siehs mal so: Wenn du nur auf deinen Rucksack guckst, wirst du nie in eine andere Richtung laufen als im Kreis.“
Das gibt mir zu denken. „Aber… es heißt doch immer, man soll sich seinen Problemen stellen.“
„Ja… stellen. Nicht nur ständig anglotzen. Du musst sie schon auseinandernehmen. Außerdem… im Grunde sinds nur Dinge und die sind eben da - ob sie dich runterziehen oder dir den Rücken stärken. Und federleichte Freude findest du schon gar nicht beim Versumpfen in der Wandelbar.“ Der Troll hält inne und zieht sich die spitzen Ohren vor die Augen. „Ach zum verbuggten Bot, ich war schon wieder zu nett.“
Wir lassen alles hinter uns. Empörte Affen und missmutige Marionetten. Glow-up, fancy-fit, happy-wear und fearless-fashion.
Wandeln aus der Wandelbar.
Draußen umhüllt uns Dunkelheit.
„Wohin jetzt, Troll?“
„Keine Ahnung. Vielleicht erstmal nach links und dann ein Stückchen gerade aus… Vielleicht am zweiten Stern rechts oder durch die alte Mauer in die Winkelgasse. Wer weiß? Wer weiß? Den Blick nach vorn und nicht zurück. Der Weg ist weit - geh nur ein Stück.“ Und mit einem stolzen Kichern über seinen Reim springt der Troll voraus.
Als ich ihm folge, hat der Rucksack nichts an seinem Gewicht verloren.
Doch gerade fällt es leichter, ihn zu tragen.