Angst und andere Unannehmlichkeiten

Wettbewerbsbeitrag von Sol Alastair, 18 Jahre

Sobald du durch die Türen gehst, wirst du von der Menge geschluckt. Du versuchst, möglichst wenig Menschen anzufassen. Du versuchst nicht daran zu denken, wie viele andere Arme schon diese gesteift haben, durch die du dich gerade durchzwängst. Du versuchst so zu tun, als ob die Wärme dich nicht ersticken würde.
(der durchschnittliche Mensch trägt etwa 100 Billionen Bakterien in sich. Die Mehrheit befindet sich im Darm, doch eine Vielzahl lässt sich auch auf der Haut finden-)
Du hältst deinen Blick strikt nach unten bis du bei der gegenüberliegenden Wand ankommst. So bist du wenigstens nicht von allen Seiten umzingelt. Irgendjemand hustet und du spürst, wie dein Körper ohne deiner Erlaubnis zusammenzuckt. Du widerstehst der Versuchung hochzuschauen – du willst wahrscheinlich nicht wissen, ob die Person eine Maske trägt. Du tust dein Bestes, eins mit der Wand zu werden und möglichst viel Platz zwischen dir und der Masse zu bilden. Was etwas schwer ist, wenn du ein Teil von ihr bist.
(Augenkontakt ist eine mysteriöse Facette der menschlichen Kommunikation. Schaut man einem Gesprächspartner zu lange in die Augen, zählt das wie eine Herausforderung. Warum starrst du mich so an? Bist du wütend? Flirtest du?
Man würde denken, die Lösung wäre einfach, niemanden in die Augen zu blicken. Doch dann heißt es Schau mich an! Weißt du nicht, dass die Augen die Spiegel der Seele sind?
Es ist beunruhigend leicht, Fehler zu machen und die Hälfte der Zeit hast du das Gefühl, dass die Leute selber die Regeln nicht verstehen. Aber das stoppt niemanden davor mitzuspielen)
Dein Rücken gegen die Wand gedrückt, checkst du zum fünften Mal in genauso vielen Minuten bei welcher Station du aussteigen musst.
Jetzt musst du nur noch die nächsten 13 Minuten überleben.
(die Klimakrise wird immer schlimmer immer mehr Überschwemmungen und Waldbrände und Naturkatastrophen und du tust dein Bestes aber es bringt nichts und die die wirklich ein Unterschied machen können denen ist es egal-
wage es nicht dich zu bewegen du willst doch keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen wage es nicht dich zu rühren bleib auf Abstand spann deine Muskeln an-
hey hast du dir schonmal darüber Gedanken gemacht wie viele Menschen gerade leiden Krieg zwischen Russland und Ukraine und Proteste in Iran und ist es nicht deine Pflicht als Bürger sich über all das zu informieren-
es ist so laut warum ist es so laut sei nicht so dramatisch so schlimm ist es nicht außer dass das Piepen in deinen Ohren immer lauter wird und du kannst nichts verstehen aber warum fühlt es sich an als würden dich alle anschreien-)
(Immer wenn du am Strand bist, warnt deine Mutter davor, zu tief reinzugehen. „Die Meeresströmungen ziehen dich rein. In einem Moment lässt du dich treiben, und im nächsten ist der Strand nichts weiter als ein kleiner Fleck in der Ferne. Und das Wasser will dich nicht gehen lassen“)
„THIS IS WHY I DON’T LEAVE THE HOUSE”
Du ignorierst die Stimme von deinem Vater, die dich vor verfrühter Taubheit warnt, und stellst die Musik lauter. Du hoffst, dass alle Menschen, die dir gerade auf die Pelle drücken, es nicht durch die Kopfhörer hören können. Deine Muskeln sind immer noch angespannt und es ist immer noch zu warm, aber wenigstens lässt der Stimmenstrudel etwas zurück.
Du schaust aus den schmutzigen Fenstern, siehst die Menschenmasse die sich nach vorne drängelt. Deine gedämpfte Panik wacht mit jedem überfüllten Gleis auf, wie ein Monster, das leichte Beute erschnüffelt. Ich kann nicht atmen, schreit dein Hirn, aber du bist nicht ohnmächtig, also kann das nicht stimmen. Es können doch unmöglich noch mehr Menschen in diesen engen Raum passen, denkst du, während die nächsten Passagiere einsteigen. Eine ältere Dame lehnt sich gegen deinen linken Arm und du kannst jeden einzelnen Muskel in deinem Körper spüren. So viele Lippen bewegen sich auf einmal und du hoffst, dass nichts davon auf dich gerichtet ist. Du stellst deine Musik lauter.
Und jetzt glaubst du zu wissen, wie deine Mutter sich gefühlt haben muss, als sie bemerkt hat, wie weit weg sie vom Ufer getrieben war. Erst lässt du dich treiben, so auf das Hier und Jetzt fokussiert, dass du die Zukunft vergisst. Und plötzlich ist der Strand weg. Wahrscheinlich ist ihr erst in diesem aufgefallen, wie kalt das Wasser ist. Die U-Bahn hält an deiner Station. Eine pulsierende Wand aus Fleisch und Blut versperrt dir den Weg zur Freiheit. Du schwitzt, aber du kannst deine Jacke nicht ausziehen. Weniger Klamotten bedeutet mehr Körperkontakt. (niemanden berühren-) (100 Billionen Bakterien-) (Muskeln anspannen Muskeln anspannen-)
Erst, wenn du wieder an die Oberfläche trittst, kannst du endlich richtig atmen. Die Maske geht zurück in die Tasche, und deine Lungen füllen sich mit süßem Sauerstoff.
(Menschen sind Herdentiere. Selbst wenn sie etwas alleine tun können, wollen sie das oft nicht. Immer wollen sie jemand dabei haben, auch wenn dieser nur blöd rumsteht.
Du verstehst das nicht wirklich. Es ist doch entspannter, wenn man sich niemanden fügen muss. Aber wenn Menschen immer Begleitung mitschleppen, nehmen sie an, dass andere auch nicht alleine rumlaufen wollen. Und wenn du niemanden hast…
Manchmal ist es leichter sich zu fügen)
Im Moment fügst du dich nicht. Du ignorierst es und gehst weiter.
(es sähe so komisch aus, wenn du jetzt einfach umdrehst.)
(du bist besser als das.)
Du hättest nicht heute gehen müssen. Wenn du ein paar Tage gewartet hättest, wäre jemand mit dir gegangen und die Öffis wären nicht so voll gewesen. Aber du wolltest heute gehen. Weil du weißt, dass du es kannst. Weil es dumm ist, sich von seinen eigenen Hirngespinsten aufhalten zu lassen. Weil du besser als das bist, und du weißt es.
(Menschen sind angsteinflößende Wesen.
Im ersten Blick mögen sie harmlos erscheinen. Ihre Krallen sind nicht spitz und ihre Haut ist weich und dünn. Der durchschnittliche Mensch ist auch nicht besonders groß und selbst größere Exemplare sind ein Witz, wenn man sie mit einem Wal vergleicht.
Aber lassen Sie sich nicht von ihrem harmlosen Aussehen täuschen. Denn was ihnen an körperlicher Kraft fehlt, machen sie mit einer bemerkenswerten Sturheit und Widerstandsfähigkeit wett. Sie sind einfallsreich und selbstverliebt, geizig und rücksichtslos – eine gefährliche Mischung.)
(Warum sind Menschen so? Warum sind wir so stur und hoffnungsvoll? Warum haben wir den Drang uns zu beweisen, immer weiter machen, selbst wenn es nicht klappt?)
Für die meisten ist es nichts Besonderes, alleine in zur Stadt zu gehen. Aber dein Hirn liebt es, dir dein Leben schwer zu machen. Du hättest jederzeit aufgeben können, und niemand hätte es erfahren müssen. Aber du hast es durchgezogen. Und es ist vielleicht nicht viel, aber du spürst, wie dein Herz leuchtet und deine Lippen lächeln.
(Es werden größere Hürden im Leben geben, und manchmal werden sie unmöglich erscheinen. Aber Menschen schaffen jeden Tag das Unmögliche, warum nicht noch eine Sache mehr?)
Für jetzt kannst du es dir erlauben, stolz auf dich zu sein. Auch für die kleinen Sachen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Sol Alastair, 18 Jahre