Überleben

Wettbewerbsbeitrag von Sabrina Dörr, 23 Jahre

Manchmal glaube ich, dass sich in dem Moment die Müdigkeit in mir festkrallte, als ich den Anruf bekam; sie hat mich bis heute nicht mehr losgelassen. Und gleichzeitig habe ich die Fähigkeit verloren, mich beim Schlaf tatsächlich auszuruhen. Ich schlafe noch, sehr viel sogar. Doch trotzdem bin ich immer müde.
In den ersten Tagen konnte ich es gar nicht. Schlafen, meine ich. Vielleicht habe ich meinen Rhythmus damals einfach irreparabel zerstört. Kann das so schnell gehen? Vermutlich schon. Das Leben kann sich schnell verändern. Einen Augenblick hatte ich mal wieder Streit mit meiner Mutter – wobei ich inzwischen nicht mehr weiß, weswegen – und im nächsten klingelte das Telefon, und im nächsten danach war meine Welt schon zusammengebrochen; hatte ihre Farbe verloren; mir war schon so kalt, dass es doch unmöglich Juli sein konnte. Es ist unfair, dass solch grauenhafte Sachen im tiefsten Herzen des Sommers geschehen können, wenn die leuchtende Sonne alles verstärkt. Aber das können sie, und von dem Moment an habe ich jeden Sommer gehasst wie die Pest.
Weil ohne dich alles keinen Sinn mehr hatte und ich es nicht aushalten konnte, wie meine Freunde um mich herum unter dem viel zu gewaltigen Sternenhimmel lachten, bis die Sonne aufging unbeschwert im Park saßen und keine Ahnung davon hatten, wie sehr alles schmerzen konnte. Ich hatte gedacht, Ablenkung würde mir helfen. Aber als der Abend, der zum Morgen wurde, vorbei war, stiegen alle auf ihre Fahrräder und fuhren nach Hause und legten sich ins Bett und schliefen sorglos ein. Ich stieg auf mein Fahrrad, stürzte fast, schrie den dämmernden Himmel an; zuhause konnte ich nicht schlafen, also lag ich drei Tage lang wach, bis ich irgendwann nicht mehr wusste, ob meine Augen von dem ganzen Weinen brannten, oder eher weil ich müde war. Jedenfalls tun sie es heute noch. Brennen, meine ich.
Ich spüre es nicht immer, das Brennen. Ich glaube, wir Menschen haben eine unglaubliche Fähigkeit, Schmerz auszublenden, wenn er lange genug anhält. Wie sollen wir denn sonst nach einer Katastrophe weitermachen (auch wenn sich das Weitermachen manchmal falsch anfühlt)?
Aber an manchen Tagen, zum Beispiel wenn die Morgendämmerung besonders schön ist, hellrosa wie deine unschuldigen Backen als ich dich mit zwölf das erste Mal kennengelernt habe, dann denke ich an dich und dann fällt mir das brennende Gefühl wieder verstärkt auf. Oder wenn ich dich in meinem Traum gesehen habe und nach dem Erwachen die Realität langsam wieder einfließt. Dann verstehe ich erst, dass ich dich aus meinem Schlaf nicht mit in die echte Welt nehmen kann. Dann verstehe ich, dass ich nicht weiß, wann ich dein Gesicht – dein Gesicht mit dem warmen Lächeln, das mich immer an eine Katze erinnerte, die sich liebevoll um die Beine ihres Besitzers kringelt; eine Bewegung, die so viel bedeutet wie „Du bist meins und ich deins“ – das nächste Mal sehe, denn ich sehe es nur noch im Traum, und nicht so oft wie ich gerne würde. Wenn ich das verstehe, kehrt das Brennen auch wieder zurück. Aber es lohnt sich dafür, dich für eine kurze Zeit wieder gesehen, erlebt, berührt zu haben, auch wenn es nicht echt war, auch wenn es vergänglich war, wie alles andere auch. Vielleicht sollte mich dieser Gedanke trösten – alles ist vergänglich; auch der schlimmste Sommer geht vorbei. Aber ich weiß nicht mehr, wie sich Trost anfühlt.
Es tut weh, wenn die Liebsten sterben. Immer. Aber das Gefühl, wenn jemand viel zu jung stirbt, kann man nicht in Worte fassen. Wenn jemand noch ein ganzes Leben vor sich hatte, das er nun nicht mehr erleben darf. Und wenn er deins auch nicht mehr miterleben darf. Ich fühle mich manchmal so egoistisch, weil ich nicht nur dein Leben betrauere, sondern auch, dass du mich nie hast aufwachsen sehen, nie den Menschen kennenlernen konntest, der ich jetzt bin – denn ich bin so anders, als ich es damals war. Damals hatte ich keine Ahnung von der Welt, während du so jung schon so weise zu sein schienst. Trotzdem hast du mich geliebt. Vielleicht wäre ich ohne dich, ohne deine Liebe und auch ohne das Wissen, dass ich das Schlimmste, was passieren konnte, überleben kann, auch gar nicht zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Trotzdem will ich, dass du mich kennst, so wie ich jetzt bin; siehst, wie stark ich geworden bin und weißt, dass ich dich immer noch liebe, und dich auch immer lieben werde. Aber ich kann es dir nicht sagen.
Ich wollte dir noch so viel sagen. Kleine Insider-Witze; alltägliche Dinge, die mich an dich erinnert haben; banale, unbedeutende Anekdoten, weil ich mein ganzes Leben mit dir teilen wollte und auch wusste, dass du dich dafür interessierst. Aber letztendlich ist nichts von all dem wichtig. Ich glaube, das Wichtigste weißt du, wusstest du, so oder so – auch wenn ich es damals nicht in Worte fassen konnte. Trotzdem will ich dir noch alles erzählen.
Will deine Augen leuchten sehen, wenn du mir zuhörst; du konntest mir als einzige Person immer das Gefühl geben, meine Worte hätten einen Wert. Ja, und jetzt schreibe ich meine Worte über dich, aber im Gegensatz zu dir lächelt die Seite nicht zurück. Die Seite gibt mir nicht dasselbe unbeschreibliche Gefühl von Glück. Ich habe Angst, dass ich es auf die Art und Weise nie wieder spüren werde.
Aber trotz jedem Zweifel bin ich es manchmal tatsächlich – glücklich, meine ich. Vielleicht eine andere Art von glücklich, aber vielleicht ist das nicht so schlimm wie ich lange Zeit dachte. Und vielleicht ist es auch nicht falsch, das Glücklichsein zuzulassen – das dachte ich auch viel zu lange.
Die Welt hat zwar ihre ursprüngliche Farbe verloren, und die, die sie jetzt hat, ist eine andere, aber sie kann trotzdem schön sein. Und vielleicht blicke ich auch irgendwann mal wieder in einen dämmernden, hellrosa Himmel und denke nicht sofort voller Reue und Leid an das Brennen in meinen Augen, weil du nicht mehr da bist, sondern eher an dein Gesicht, deine Backen, dein Lächeln, all die Schönheit, die ich erleben durfte – und daran, dass du, obwohl du in physischer Form nicht mehr da bist, immer noch in mir existierst, weiterlebst. Denn das tust du, und meine Welt ist eine bessere, weil ich dich kennen durfte, auch wenn ich jetzt immer müde bin, und auch wenn ich eine Katastrophe überleben musste. Aber ich habe gelernt, dass ich es kann.
Überleben, meine ich. Und du hast es mir beigebracht.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Sabrina Dörr, 23 Jahre