Ich spazierte über die Straße. Ein Mädchen kam mir entgegen. Es war Lena, die Tochter unseres Nachbarn. Sie hatte die Kapuze ihrer schwarzen Jacke tief ins Gesicht gezogen und den Blick auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet. Ihre rechte Hand umklammerte den linken Unterarm.
Ich brauchte ihren Arm nicht zu sehen, um zu wissen, was sich unter den langen Ärmeln ihrer Jacke verbarg.
Die Narben auf meinem Arm juckten. Ein dunkles Gefühl machte sich in mir breit. Wie eine schwere Wolke wollte es sich über meine Gedanken legen. Hastig schüttelte ich es ab. Schnellen Schrittes ging ich weiter, grüßte Lena flüchtig und hastete aus der Siedlung.
Erst als ich über die Felder spazierte, kehrte die Ruhe in meinen Körper zurück. Ich schlug den Weg zu meinem Lieblingsplatz ein. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken und wollte allein sein. Doch als ich die Bank unter der großen Eiche erreichte, saß dort bereits jemand.
Der Junge hob den Kopf und sah mich freundlich an.
„Hallo.“
„Ha-hallo“, stammelte ich verlegen. „Was … was machst du hier?“
„Ich denke nach“, erwiderte er und lächelte. „Du kannst dich gern zu mir gesellen, wenn du möchtest.“
Ich wollte schon ablehnen und einen anderen Platz aufsuchen, aber irgendein Gefühl hielt mich zurück. War es Neugier?
Langsam setzte mich neben den Jungen, bedacht darauf, eine Armlänge Abstand zu ihm zu halten. Ich musterte ihn mit einem flüchtigen Blick von der Seite, bevor ich fragte: „Worüber denkst du denn nach?“
Er richtete seinen Blick auf die weiten Felder vor uns und antwortete: „Ich denke über die Veränderung nach. Darüber, wie es ist, wenn sich etwas Wichtiges in deinem Leben plötzlich verändert …“
Bei diesen Worten spürte ich wieder die Narben auf meinem Arm. Ein Schatten meldete sich in meinem Hinterkopf. Rasch verbannte ich ihn wieder in den hintersten Winkel meiner Gedanken. Ich fluchte im Stillen und senkte den Blick auf meinen linken Unterarm. Ich hasste diese Narben. Warum mussten sie mich ständig an die Vergangenheit erinnern? Warum konnten sie nicht einfach verschwinden und mit ihnen die Erinnerung? Dann könnte ich endlich die Angst hinter mir lassen und neu beginnen …
Die Stimme des Jungen riss mich aus meinen Gedanken.
„Worüber denkst du gerade nach?“
Schnell legte ich meine Hand über die Narben. „Äh … über nichts … nichts Wichtiges … Wie heißt du eigentlich?“
„Phönix.“
„Phönix?“
Er nickte. „Phönix. Wie der Vogel, der aus der Asche wiederaufersteht.“
Verständnislos sah ich ihn an.
„Du kennst doch den Feuervogel aus der Mythologie, oder?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Also“, begann Phönix zu erklären, „der Phönix ist ein besonderer Vogel. Wenn sein Lebensende naht, stürzt er sich ins Feuer und verbrennt. Aber aus der Asche schlüpft ein neuer Phönix, der noch schöner ist als der alte. Er wird also aus der Asche wiedergeboren, und zwar noch stärker und schöner als zuvor.“
Sein Blick fiel auf meinen Unterarm, den ich noch immer mit meiner Hand bedeckte.
„Du bist auch ein Phönix“, sagte er mit einem Lächeln. „Du hast Tiefen erlebt und bist aus ihnen stärker empor gestiegen. Du bist jetzt um deine Narben reicher …“
„Ich hasse meine Narben“, fiel ich ihm ins Wort. „Ich will sie nicht. Jeden Tag erinnern sie mich daran, was ich durchgemacht habe, an die Schmerzen, die ich durchgestanden habe …“
Meine Stimme brach. Ich schluckte und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
Phönix‘ Blick ruhte auf mir. „Warum macht dir die Erinnerung Angst?“
Ich sah hinab auf meine zitternde Hand. „Weil … weil es schreckliche Erinnerungen sind.“
„Aber diese Erlebnisse liegen jetzt hinter dir“, erwiderte Phönix ruhig. „Die Vergangenheit kann dir nichts mehr anhaben.“
„Aber was ist, wenn ich rückfällig werde?“, flüsterte ich. „Wenn ich wieder in denselben Abgrund falle wie damals?“
„Sieh auf deinen Arm!“, sagte Phönix. „Die Wunden sind verheilt. Du hast es geschafft, das Tal mit all seinen Schrecken zu überwinden. Jetzt stehst du auf der Spitze des Berges und kannst mit Stolz auf den Weg hinunterblicken, den du gemeistert hast. Deine Narben zeigen dir, wie stark du bist und welche Hindernisse du überwunden hast. Und deiner Erfahrung hast du zu verdanken, dass du jetzt sehen kannst, was andere nicht sehen.“
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Augenblicklich musste ich an Lena, die Nachbarstochter, denken. Ob es außer mir noch Menschen gab, die wussten, dass sie lautlos litt?
Mir war, als hätten mich Phönix‘ Worte wachgerüttelt. Wovor hatte ich noch Angst? Ich kannte jetzt das Tal. Ich wusste, wo die Gefahren lauerten, wusste, an welchen Stellen ich aufpassen musste. Und außerdem wusste ich, dass ich stark genug war, um das Tal zu durchqueren. Wenn ich also vor dem nächsten Tal stand, kannte ich bereits den Weg, der mich sicher auf die andere Seite bringen würde. Wie ein Phönix würde ich durch den düsteren Nebel zurück ins Licht segeln.
Ich atmete auf. Zum ersten Mal fühlte ich mich frei.
„Ich danke dir, Phönix!“, rief ich und sprang auf die Füße. Es gab einige Dinge, die ich sofort erledigen wollte. Ich wandte mich zum Gehen, hielt nochmals Inne und sah Phönix an.
Er schien schon zu wissen, was ich ihn fragen wollte, denn er zwinkerte mir zu und meinte gelassen: „Unsere Wege werden sich wieder kreuzen.“
Ich lächelte ihm zum Abschied zu, drehte mich um und rannte heimwärts. Meine Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Der Wind wehte mir ins Gesicht. Ich streckte die Arme aus und lachte. Fast fühlte es sich so an, als würde ich fliegen.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich sogleich an meinen Schreibtisch, nahm Stift und Papier zur Hand und schrieb einen Brief:
„Liebe Lena, ich bin nicht sicher, ob du darüber reden willst, … vielleicht hilft es dir, zu wissen, dass ich mich früher auch selbst verletzt habe. Falls du also jemanden zum Reden brauchst …“