Du

Wettbewerbsbeitrag von Mia Gandyli, 15 Jahre

Die Sonne kriecht langsam den Himmel empor und erhellt gerade erst einen dünnen Streifen knapp über dem Horizont, wie ein erster Schritt Richtung Morgen. Die Parkbank wirkt einsam und verlassen inmitten einer Insel von Grün. Sie passt nicht in diese Oase, eher in das Zentrum dieser versifften Großstadt.
Ich lasse mich erschöpft auf die Bank fallen und strecke meine Beine aus. Jeder einzelne meiner Muskeln scheint zu schmerzen, jede einzelne Faser meines Körpers schreit nach Schlaf und ein paar Stunden Ruhe. Aber mein Kopf ist hellwach.
Ich blicke nach oben und prompt landen vereinzelte, schwere Tropfen auf meiner Stirn. Der Regen wird immer stärker, er prasselt mit voller Wucht auf den gepflasterten Weg. Das Blätterdach über meinem Kopf lässt nur wenig von den Wassermassen durch und trotzdem tränkt sich meine dünne Jacke mit Regen.
Ich hole tief Luft, bevor ich den Atem anhalte und die Augen schließe. Ich lausche dem Regen und dem fernen, langsam erwachenden Straßenverkehr. Ich höre Schritte, ich höre meinen eigenen Herzschlag. Ich atme wieder aus, aber kneife meine Augen weiterhin zusammen. Ich sauge den Geruch von Grün auf und verliere mich im Duft vom Regen. Wieder atme ich aus. Ein weiterer Tropfen landet auf meiner Stirn und ich reiße die Augen auf, nehme die Welt wahr.
Der Park ist leer. Nur ich, allein und verlassen auf der alten, morschen Parkbank. Kalter Wind zieht um meine Ohren und ich frage mich, wann der Sommer beschlossen hat zu enden. Wann du beschlossen hast, nicht mehr ein Teil meines Lebens zu sein? Plötzlich wird sämtliche Luft aus meinen Lungen gepresst. Plötzlich kann ich nicht mehr atmen. Als wäre um mich keine Luft, kein Sauerstoff, nichts als unendliches zähflüssiges Nichts.
Wie automatisch greife ich nach deiner Hand, aber ich fühle nur Leere. Dieselbe Leere, die auch mein Herz erfüllt. Dieselbe Leere, die mir den Atem raubt. Dieselbe Leere, die mich an diesen Platz geführt hat. Und die Leere scheint anzuschwellen mit jeder einzelnen Sekunde, in der du nicht da bist. Du bist so tief in meinem Alltag verankert, in jeder meiner Gewohnheiten verwurzelt, du bist schon ein Teil von mir.

Und jetzt, warst du ein Teil von mir. Ich ringe nach Luft und doch kommt nichts in meiner Lunge an. Ich taste nach links, doch da ist nur kalte, blasse Nässe. In meiner Brust hat sich ein Gefühl eingenistet, dass ich nicht kenne. Ein fremder Besucher, der jetzt in meinem Herzen eingezogen ist. Ich weiß nicht mal, was dieses Gefühl ist. Es ist nicht wie der Schmerz oder die Trauer, die ich kenne. Aber es frisst mich auf. Lockt mich Stück für Stück zu sich, um mich nie wieder loszulassen. Ich bin kurz davor, gänzlich in diesem Meer aus Ungewissheit und undefinierbarem Leid zu versinken. Kurz davor, an deiner fehlenden Existenz zu ersticken.
Meine Finger fahren über die unebene grüne Lackierung der Bank. Ich streiche vorsichtig über jede einzelne Vertiefung, an der die Farbe bereits abblättert. Mit jeder Sekunde nimmt die Enge in meiner Brust ab. Es ist wie ein Ruf in die Realität, wie ein Rettungsring.
Meine Fingerkuppen streichen über die eingeritzten Initialen unserer Namen. Ein Versprechen, hast du gesagt. Für immer, habe ich geantwortet. Für dich war es ein für immer. Für mich ist es ein gebrochenes Versprechen.
Wieder und wieder ziehe ich die Buchstaben nach, als würde es etwas ändern. Als wäre der Bestand dieser Buchstaben eine Absicherung, ein Beweis, dass in irgendeinem anderen Universum wir glücklich zusammen sind. Dass du in einem anderen Universum auch lebendig glücklich bist. Dass ich in einem anderen Universum genug für dich bin.

Ich halte für ein paar Sekunden inne, die Augen immer noch geschlossen. Wie gefangen in einer Starre. Schritte kommen näher. Die Hoffnung ist luftig und leicht, schleicht sich in Windeseile in mein Herz, obwohl mein Kopf verneint. Ein warmes Gefühl der Vertrautheit scheint wie ein Sonnenuntergang im Spätsommer und vertreibt jegliche Qual für ein paar Sekunden. Aber die Schritte, die folgen, sind zu zaghaft, zu leise, zu orientierungslos. Nicht wie du.
Der Rettungsring wird zu einem Anker, der mich an den Meeresgrund zieht. Die Wellen schwappen über mich und ich reiße die Augen auf. Das Leid kommt zurück und trifft mich mit voller Wucht.
Ich blinzle heftig als mich eine weitere Welle der Panik erfasst. „Was ist los mit dir?“ Meine Gedanken verstummen, als ich das kleine Mädchen sehe. Gelbe Regenjacke, pinke Gummistiefel mit Blumen drauf, rote Ringellocken und ein süßes Gesicht. Das von Sommersprossen übersät ist. Die Augen hat sie fest zusammengekniffen.
„Ich“, setze ich zu einer Antwort an, aber meine Stimme schwindet. Ein Schluchzer entweicht mir und ich schlage die Hand vor den Mund. „Versteh schon. Immer wenn ich traurig bin, sagt Mama, dass alles gut werden wird.“ Das kleine Mädchen lehnt sich zu mir vor, als würde sie mir ein ganz vertrauliches Geheimnis erzählen. „Dabei ist auch jetzt alles gut“, flüstert sie und mich überkommt ein weiterer Anflug von Schmerz. Ich verziehe das Gesicht und das Mädchen lacht, als sie meine Grimasse sieht. Ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.
„Spätestens morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus“, meint das Mädchen noch, bevor es auch schon wieder weiterläuft.
Meine Hand tastet nach deinem Anfangsbuchstaben. Ich will nicht, dass die Welt anders aussieht. Ich will die Zeit zurückdrehen, will deine Hand halten, deinen Atem neben mir hören. Ich drücke meine Handfläche gegen das eingeritzte R und habe das Gefühl du bist hier. Lang genug, um zu wissen, dass es okay sein wird.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.