Komisch

Wettbewerbsbeitrag von A.Z., 24 Jahre

S kommt in die Schule. Am ersten Tag sollen die Kinder sich im Sportunterricht zu Vierergruppen zusammenfinden. Alle kennen schon jemanden. S kennt auch ein paar, aber die haben schon vollständige Gruppen. S wird einer als fünftes Mitglied zugeteilt, sie sollen sich abwechseln. Aber wer will schon aussetzen, nur damit S auch mal an der Reihe ist? S will etwas sagen, aber S’ Mund geht nicht auf. Die Worte bleiben auf dem Weg stecken. S schaut den Rest der Stunde zu.

N ist beliebt. N ist mit vielen befreundet. N sieht immer gut aus. N macht alles richtig. S wäre manchmal gerne wie N. Aber eigentlich auch nicht, denn N ist manchmal gemein. Und S will nicht gemein sein. N beleidigt manchmal andere, besonders B. N sagt Sachen wie “Wenn ich B wäre, würde ich nie mehr in den Spiegel schauen.” oder “B stinkt so sehr, dass man nicht mal merken würde, wenn B sich in die Hose scheißt. “ Einmal hat N gesagt “S ist komisch”. Und alle haben zugehört.

“Na, hast du schon Freunde gefunden?”, fragen die Eltern von S. S schüttelt den Kopf. S’ Eltern machen ganz viele Vorschläge. Damit S “besser bei anderen Menschen ankommen kann”, wie sie sich ausdrücken. Aber die Vorschläge funktionieren nicht. Nicht für S. Denn S ist komisch. Das hat N gesagt.

S hat P kennengelernt. S mag P und umgekehrt. Aber P mag N mehr. “Eigentlich finde ich dich nett. Aber N findet, du nervst und bist komisch. Tut mir leid.” S hat P ein Geheimnis anvertraut. P hat es N erzählt und jetzt weiß es die ganze Klasse. “Ich hätte es wissen müssen”, denkt S.

“Warum triffst du dich nicht mal mit deinen Freunden? Ruf doch mal an, es hat bestimmt jemand Zeit”, sagt S’ Mutter.  “Ich bin falsch”, denkt S. “Alle können das, nur ich nicht.”
“Wenn du nichts mit den anderen zu tun haben willst, dann halten sie dich irgendwann für komisch”, sagt S Vater. “Ach!”, denkt S.

In der Schulklasse gibt es eine Liste. Sie geht heimlich im Unterricht herum. Nur die beliebtesten der Klasse dürfen sie ausfüllen. S hat sie trotzdem gesehen, durch Zufall. Auf der Liste stehen alle Namen aus der Klasse. Wer die Liste erhält, kann daneben zwischen drei verschiedenen Smileys auswählen. 1: Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln. 2: Smiley mit geradem Strichmund. 3: Smiley mit nach oben gezogenen Mundwinkeln. Die Liste wurde bereits ausgewertet. Das schlechteste Ergebnis hat B. Niemand hat für B einen lächelnden Smiley vergeben und es sind auch nur drei mit geradem Mund. Das zweitschlechteste hat S. Fast alle Smileys für S haben einen geraden Mund. Auch P hat kein Lächeln für S vergeben, man sieht es an der Farbe. Nur P schreibt mit grüner Tinte. Das tut weh. Auf dem Nachhauseweg weint S und schämt sich gleichzeitig dafür, schließlich liegt B noch weiter hinten. Aber S möchte nicht nur nicht gehasst werden. S will gemocht werden.

Für S beginnt ein neuer Lebensabschnitt, mit neuen Gesichtern und neuen Problemen. Am ersten Tag sollen sie sich zu Gruppen zusammenfinden. Fast alle kennen schon jemanden. S kennt fast niemanden. S will auf jemanden zugehen, aber S hat Füße, die schwer sind wie Blei und wenn S den Mund aufmacht, kommt nichts heraus. Also wird S einer Gruppe zugeteilt.

S ist Teil eines Gesprächs. Jemand fragt: “Kennt ihr das?” Die anderen nicken. “Kennt doch jeder”, sagt irgendwer, der nicht N ist und irgendwie doch. “Ähm”, denkt S, sagt aber nichts. S sagt meistens nichts. Wer nichts sagt, fällt nicht auf. Wer nicht auffällt, ist vielleicht nicht ganz so komisch.

Unter vielen Menschen fühlt S sich unwohl. Nicht weit entfernt stehen ein paar Leute und unterhalten sich. Worüber, ist nicht zu hören. Sie schauen oft in S’ Richtung. Sie kichern. "Habe ich einen Fleck auf der Kleidung? Steht mein Hosenladen offen?”, fragt sich S und stellt sich woanders hin. Außer Sichtweite der Kichernden.

S ist auf einer Party. Alle haben Spaß. S hat keinen Spaß. Alle tanzen. S tanzt auch, um nicht aufzufallen. Aber S’ Körper fühlt sich merkwürdig an, gar nicht so, wie wenn S zuhause tanzt. S sieht komisch aus. Niemand sagt das. Nicht laut. Aber S weiß, dass alle das denken. 

“Na, hast du schon Freunde gefunden?”, fragen die Eltern von S. S macht ein unbestimmtes Geräusch. S weiß immer noch nicht, wie man “besser bei anderen Menschen ankommen kann”. S ist immer noch komisch. Das weiß S selbst, auch wenn das niemand gesagt hat. Noch mehr Vorschläge kann S nicht brauchen.

S hat jemanden kennengelernt. S mag W und umgekehrt. Trotzdem fühlt S sich mit W manchmal komisch. S könnte W ein Geheimnis anvertrauen, tut es aber nicht. S weiß, dass das nicht Ws Schuld ist, sondern die von P und von N. Aber S will nicht schon wieder denken “Ich hätte es wissen müssen.”

W geht mit S einen Kaffee trinken. “Was andere sagen, wie sie schauen, was sie tun – das meint selten wirklich dich. Alle Menschen haben ihre ganz eigenen Gedanken und Schwierigkeiten. Wenn man das einmal verstanden hat, lässt man sich von unangenehmen Begegnungen nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen”, sagt W, als sie sich unterhalten. S hat schon oft ähnliches gehört, aber erst jetzt, in den Worten von W, klingt das ganze logisch. Glaubwürdig. S wird in den nächsten Tagen, vielleicht auch Jahren, oft darüber nachdenken.

S begegnet immer noch Menschen wie N und fühlt sich ihnen manchmal immer noch unterlegen. S begegnet immer noch Menschen wie P. Und fühlt sich von ihnen manchmal immer noch verraten. Aber immer seltener.

S hat jemanden kennengelernt. S mag L und umgekehrt. L hat S angesprochen, einfach so, und jetzt sind sie befreundet. Mit L fühlt sich S nicht komisch. Zusammen mit L fallen Reden, Tanzen und Sein ganz leicht. S hat L ein Geheimnis anvertraut und L hat es für sich behalten.

Unter vielen Menschen fühlt S sich manchmal unwohl. Nicht weit entfernt stehen zwei und unterhalten sich. Worüber, ist nicht zu hören. Sie schauen oft in S’ Richtung. Sie kichern. “Was ist denn so lustig?” S kann kaum glauben, das wirklich laut gefragt zu haben. Die beiden Kichernden zeigen auf ein Plakat mit einem schlechten Wortwitz, das hinter S hängt, und sie lachen zu dritt.
S erzählt L am Abend davon. “Ich bin stolz auf dich”, sagt L. Noch stolzer ist S aber auf sich selbst.

“Na, hast du schon Freunde gefunden?”, fragen die Eltern von S. S nickt. S hat L gefunden. S ist immer noch komisch. Aber das macht nichts.

Für S beginnt wieder ein neuer Lebensabschnitt, mit neuen Gesichtern und neuen Herausforderungen. L ist nicht mehr da. In eine andere Stadt gezogen. Man hat nicht immer solch ein Glück und lernt jemanden wie L kennen, weiß S. Diesmal muss S das Schicksal selbst in die Hand nehmen. Am ersten Tag sollen sie sich zu Gruppen zusammenfinden. Manche kennen schon jemanden. S kennt niemanden. Mit Füßen schwer wie Blei geht S auf jemanden zu und macht den Mund auf. “Hallo”, sagt S.

“Na, hast du schon Freunde gefunden?”, fragen die Eltern von S. S ist immer noch komisch. Und das ist auch gut so. S antwortet: “Ich habe mich selbst gefunden.”

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: A.Z., 24 Jahre