Gefangen am Boden

Wettbewerbsbeitrag von Flying, 19 Jahre

Etwas stimmt mit mir nicht, da bin ich mir absolut sicher. Doch die Menschen in meinem Umfeld wollen es mir einfach nicht glauben. Ich solle mich einfach zusammenreißen, es sei nur die Pubertät. Dabei fühle ich mich wie ein Vogel, dessen Flügel festgebunden sind.
Was wissen die schon, was tagtäglich in meinem Kopf vorgeht? Sie sehen gar nicht, wie ich mich jeden Morgen im Badezimmer einschließe, um zu weinen. Keiner soll bemerken, dass ich das Fliegen verlernt habe. Ich muss funktionieren und gute Noten schreiben. Genau das ist es, was alle sehen. Meine schriftlichen Noten sind doch gut, da kann es mir überhaupt nicht schlecht gehen. Sie sagen, jeder habe mal schlechte Tage. Dabei frage ich mich, wo sind meine guten geblieben?
Ich gehe immer früher schlafen, so kann ich zumindest etwas der Realität entfliehen. Dabei werde ich zwar von Alpträumen heimgesucht, aber ich fühle mich dort lebendiger als im Wachzustand. Mein Leben ist, als schaute ich nur einen Film und könnte die Geschichte nicht kontrollieren. Wie ein Vogel, der nicht fliegen kann. Alles erscheint so sinnlos, bloß die schönen Träume, in denen ich fliege, schenken mir Freude. Doch auch sie scheinen mich verlassen zu wollen und kommen seltener zu Besuch.
Mir ist klar, dass etwas mit mir nicht stimmt. Immer wieder versuche ich zu fliegen, doch kann ich nicht einmal meine Flügel ausbreiten. Es bricht mir das Herz. Warum versuche ich es eigentlich überhaupt noch? Es ist sinnlos, so sinnlos weiterzumachen.
In meinen Gedanken höre ich nur, wie wertlos ich bin. Egal, was ich versuche, ich passe nicht in diese Welt. Jeder kann fliegen, nur mir sind die Flügel gebunden. Zu viele Gedanken, die keiner zu verstehen vermag. Mein Lieblingsgedanke ist dabei, mir meine Haut vom Leibe zu reißen. Ich möchte nicht mehr die Person sein, die ich bin. Ich möchte wieder fliegen können.
Ich brauche Hilfe, wenn ich dieses triste Leben nicht weiterführen möchte. Doch habe ich Angst, Schwächen zu zeigen. Was, wenn sie gegen mich verwendet werden? Noch mehr Schmerz können meine Flügel nicht ertragen. Sie drohen auf ewig erstarrt zu bleiben.
Bei wem kann ich sicher sein, nicht hintergangen zu werden? Ich will aber auch von niemanden Mitleid erfahren. Mitleid macht meine Situation nicht besser. Dadurch werde ich auch nicht wieder fliegen können. Vielleicht ist es besser mich einer nicht so nahestehende Person wie einen Lehrer anzuvertrauen.
Vom Lehrer, zur Seelsorgerin und dann zu einer psychiatrischen Praxis. Ich kann nicht mehr. Jedes Gespräch ist eine Qual. Sie zerren an meinen kaputten Flügel, doch ist es zwecklos, sie lassen sich nicht ausbreiten. Am meisten vertraue ich dem Lehrer, doch er ist ratlos mit mir. Von meiner Therapeutin habe ich auch keine Diagnose erhalten. Was ist bloß falsch mit mir? Meine Flügel sind so versteinert. Ich verstehe nichts mehr.
Wenn selbst die Therapeuten nicht wissen, was mit mir falsch ist, wer soll es dann überhaupt wissen können? Ich scheine nicht in diese Welt hineinzupassen. Alle anderen fliegen hoch hinauf, doch ich bleibe stets am Boden. Ich funktioniere einfach nicht.
Eigentlich sollte ich glücklich sein, ich habe meinen Fachoberschulreife mit Qualifikation geschafft und wurde sogar von einem Gymnasium genommen. Doch ich bin unzufrieden mit mir. Ich bin eine schlechte Freundin, bin gefangen in meinem Kopf und komme da nicht raus. Anstatt mit meinen Freunden zu fliegen, schaue ich vom Boden aus zu und aus Mitleid fliegen sie nun auch weniger. Ich bin bloß eine Last für sie.
Das Gymnasium gibt mir den Rest. Ich habe das Gefühl, nichts mehr auf die Reihe zubekommen. Mein einziger Gedanke, ich kann nicht mehr. Dauerhaft bin ich angespannt und finde einfach keine Ruhe. Ich ertrinke, während alle um mich herum frei atmen können
Die Therapie hilft mir im Geringsten. Doch eine neue Therapeutin zu suchen, macht mir so sehr Angst. Wieder alles erzählen zu müssen, was mein Herz zerreißt. Wenn ich das ausspreche, was in meinem Kopf vorgeht, verstumme ich. Meine Stimme bricht und die Tränen drohen zu fließen. Wenn ich es ausspreche ist es wahr und nicht mehr etwas, was nur in meinem Kopf spukt.
Ich nehme eine Pause von der Therapie, es kostet mir viel zu viel Kraft. Nach jeder Sitzung bin ich erschöpft und kann gar nichts mehr an dem Tag machen. Es macht einfach keinen Sinn, besonders weil keine Besserung in Sicht ist. Tausend Ratschläge habe ich gehört, doch fliegen kann ich immer noch nicht. Vorübergehend gehe ich aber zu einer Beratungsstelle, damit mich das dunkle Loch nicht komplett verschlingt. Doch sehe ich kein Licht in der Ferne.
Ich bin wieder in das Loch gefallen und verweile hier schon viel zu lange. Wie fühlt sich Freude an? Ich weiß es nicht mehr. Die Dämonen in meinem Kopf wirken glaubwürdig. Sie sagen, dass mich keiner braucht und ich hoffnungslos bin. Ich weiß, ich sollte ihnen nicht zuhören, doch sie sind mein zu Hause und haben mich nie im Stich gelassen. Sie sagen mir, dass es viel zu gefährlich ist zu fliegen und ich besser am Boden bleiben soll. Meine Flügel haben sie fest im Griff.
Es fällt mir schwer es zuzugeben, aber ich brauche Hilfe. Meine Psychologin bei der Beratungsstelle ruft für mich bei einer Therapeutin an. Glücklicherweise ist bei ihr die Warteliste nicht lang. Diese Therapeutin drückt mir direkt in der zweiten Sitzung einen Fragebogen zu Depressionen in die Hand.
Eine Woche später bekomme ich die Diagnose: Mittelgradige depressive Episode. Einerseits macht es mir Angst, da ich keine Depression haben möchte. Genau die Krankheit, die einen im Stillen langsam umbringt. Anderseits versichert mir die Therapeutin, dass es behandelbar ist.
Ist da endlich ein Licht? Kann ich mich doch von den Dämonen trennen und wieder fliegen lernen? Ich merke, wie die Last auf meinen Schultern leichter wird. Ist das Hoffnung, was ich spüre? Es ist mir so neu und angsteinflößend. Ich könnte enttäuscht werden, doch zugleich kann ich vielleicht eines Tages wieder den Wind unter meinen Flügeln spüren. Dabei merke ich wie ich plötzlich wieder ganz leicht meine Flügel bewegen kann ohne vor Schmerz aufzuschreien.
Endlich weiß ich, was mit mir falsch ist und plötzlich nehmen mich die Menschen auch ernster. Mit einer Diagnose ist es plötzlich nicht mehr etwas, bei dem ich mich bloß nur anstelle. Ich stelle fest, dass viele meiner Freunde keine Ahnung von Depressionen haben. Doch das stört mich nicht, denn ich bringe ihnen alles bei, was ich weiß. Dabei bemerke ich, wie sie nicht mehr überfordert mit mir sind und das gibt mir das Gefühl, doch nicht so falsch in dieser Welt zu sein, wodurch die Wunden an meinen Flügeln zu heilen beginnen.
Die Last auf meinen Schultern wird immer weniger, so dass ich aus Freude manchmal anfange zu weinen. Es ist als hätte jemand meine Flüge endlich befreit und ich könnte sie endlich wieder ausbreiten. Das Fliegen unter dem freien Himmel scheint kein Traum mehr zu sein, sondern bald Wirklichkeit.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.