Gegen die Angst

Wettbewerbsbeitrag von Jessica, 25 Jahre

Meistens kommt die Angst spät am Abend, wenn die Dunkelheit über der Stadt liegt wie eine schwere Decke. Dann sitzt sie aufrecht im Bett, weil ihr Rücken brennt und kleine Kieselsteine in ihren Magen piksen.
Bei Dunkelheit ist sie alleine mit den Bildern in ihrem Kopf. Kinoleinwand große Bilder, die im Tageslicht verblassen, nur um im Dunkeln gestochen scharf herauszukommen.
Sie hat schon alles probiert: Die Angst herunterzuschlucken, kleinzureden, umzuwandeln und ausreden zu lassen.
Ausreden lassen. Das hat für sie am wenigsten funktioniert, denn wie ein Radio plärrte und plärrte sie weiter, steigerte sich in ihre eigene Geschichte hinein und wurde lauter je mehr Platz sie bekam.
Jetzt sitzt sie wieder aufrecht im Bett, mit einem Rücken, der sich anfühlt, als lehne er an Feuer und einem Nacken, der sich vor lauter Anspannung nicht von links nach rechts drehen lässt.
Sie sitzt und schweigt, spielt Seilziehen mit der Angst. Immer wieder  versucht sie die Leinwand-Bilder mit neuen frischen Farben zu übertünchen:

Der Raum ist steril und gestrichen in einem kühlen Blau.
                                                   
                                    Blauer Himmel, Sonnenschein. Perfektes Wetter für ein Eis                                                                                                                                                                                         
Starre Blicke haften an ihr.
                                    Sie bestellt sich ein Wundertüten-Eis und bekommt: Zimt, Himbeer, Brownie.         
                                   
Von diesem Tag hängt ihre Zukunft ab.                                                         
                                 
                                    Abschalten und sich treiben lassen, wie die winzigen Wölkchen am Himmel.

Ihre Zukunft hängt ab von diesem Tag und den starrenden Blicken.

Augenblicke fängt sie von oben ein. Also steigt sie mit tropfendem Eis hinauf zur Bergfestung
Ihre Zukunft hängt ab von diesem Tag, den starrenden Blicken und am gruseligsten: Von ihren Worten, von ihr selbst.           

Von oben sieht ihre Welt wunderschön aus: Roten Dächer, grüne Baumtupfen, schimmernder Fluss.
Atmen. Atmen! Sie kann nicht mehr -
                                                                                           
                                    Fluss – einatmen, ausatmen – alles ist im Fluss

Sie reißt ihren Mund auf. Statt mit Luft, füllt er sich mit Angst.
                                    Fluss – einatmen, ausatmen – alles ist
                                                                                         
Angst, Angst, Angst – die ihren Hals zu sperrt ´...
                                                                                                                  sterile, blaukühle Wände
… und die Worte nicht mehr herauskommen lässt, an denen ihre Zukunft hängt.
                                                                                                                  Starrende Blicke.
                                                                                                                  Zukunft.
                                                                                                                  ANGST.

Am liebsten würde sie ihren Kopf an die Wand hämmern, um endlich wieder etwas anderes zu fühlen. Stattdessen steigt sie aus ihrem Bett und direkt hinein in ihre weichen Fellpantoffeln.
Damit läuft sie zu ihrem großen Fenster und starrt Löcher in die Nacht. Draußen brennen vereinzelte Straßenlaternen, aber die Lampen in den Häusern ihrer Nachbarn sind schon längst erloschen. Ist sie die einzige Albtraumwandlerin in der ganzen Straße, die sich wünscht, endlich aus ihrer eigenen Realität aufzuwachen?

Sie legt ihre Hände auf den warmen Heizkörper. Was ist, wenn sie ausgerechnet morgen müde wird, kurz vor  ihrer eigenen Zukunft? „Ich bin unglaublich müde“, sagt sie und weiß selbst nicht genau zu wem. „Bitte lass mich einfach schlafen, mich ein bisschen ausruhen.“
„Mit wem redest du?“, fragt sie eine innere Stimme.
Sie schweigt, dann sagt sie: „Gerade können wir die Situation sowieso nicht ändern. Wir sind gut vorbereitet. Was passieren soll, wird passieren.“
„Wir?“, fragt diese innere Stimme wieder und fast klingt es, als würde sie sich ein bisschen freuen. Es ist keine unangenehme Stimme, stellt sie fest. Die Stimme ist nicht besonders laut oder fordernd, sie klingt eher unsicher.
In diesem Moment wird ihr klar: Sie hat versucht, die Angst herunterzuschlucken, kleinzureden, umzuwandeln und ausreden zu lassen. Aber eine Sache hat sie nie versucht: Mit der Angst zu reden.
In den Fellpantoffeln geht sie in die Küche und macht sich und der Angst erst einmal einen Kakao, wie bei einem Mitternachtsgespräch mit einer guten Freundin. Als der Kakao fertig ist, stellt sie sich wieder zurück ans Fenster.
„Ich kenne dich“, sagt sie zur Angst. „Du hast mich schon oft besucht, aber so groß wie diesmal warst du noch nie.“
Die Angst lässt sich Zeit, bevor sie antwortet: „Ich fühle mich heute überhaupt nicht groß, eher ziemlich schwach und zerbrechlich. Als könnte ich nichts und wäre eine absolute Katastrophe.“
„Aber ... Genau so fühle ich mich auch. Wie kann das sein?“ Und in die entstehende Pause hinein die Erkenntnis: „Wir.“ Sie nimmt einen Schluck aus ihrer immer noch dampfenden Tasse. „Wir. Es war niemals Du versus Ich. Wir sind ein Team und wir lassen uns beide von einander anstecken. Wenn ich angespannt bin, wirst du es umso mehr.“
„Stimmt“, sagt die Angst leise. „Und vielleicht ist das sogar manchmal nützlich?“
„Vielleicht.“ Sie überlegt. „Zum Beispiel wenn ich eine Straße überquere und sehe, dass ein Auto kommt ... dann ist es gut, dass du so hektisch wirst, wie ich, und mir deine gesamte Ladung Adrenalin abgibst. Aber manchmal ist es eben auch echt kontraproduktiv“, sagt sie und spricht von all den Momenten in ihrem Leben, in denen die Angst sie nervt, anstrengt, auslaugt, bevor sie endet: „Manchmal brauche ich Stabilität, in den Momenten, in denen wir beide uns immer weiter in Unsicherheit hineinsteigern. Kannst du dich nicht in Mut verwandeln? Oder in Entschlossenheit? In Selbstbewusstsein? Eine kleine Schippe Arroganz würde ich auch nehmen.“ Darüber muss sie lachen. Doch auch ohne eine Antwort versteht sie, dass die Angst sich nicht verwandeln kann, ohne das auch sie sich verändert. Sie seufzt. „Hmm. Oder könntest du mir dann wenigstens ab und zu aus dem Weg gehen? Gerade zum Beispiel wäre es wirklich hilfreich, wenn du dich ein bisschen zurückziehst und erst dann wieder kommst, wenn ich dich rufe, ja? Vielleicht vor der nächsten Straßenüberquerung.“
Sie wartet. Dann lauscht sie erstaunt in sich hinein. Irgendwie fühlt sich die Stelle zwischen Herz und Zwerchfell jetzt anders an als zuvor, leer und leicht. Etwas ist anders und ihr wird klar: Die Angst kann ihr nicht mehr antworten, denn sie hat auf ihre Bitte gehört.
Sie atmet einmal tief ein und aus und lässt ihre Teetasse auf dem Fenstersims stehen, während sie sich zurück in ihr Bett legt.
Ihr Herzklopfen wird wieder fester, das flaue Gefühl in ihrem Magen kehrt zurück. Ihr Rücken ist warm, als würde er an der Heizung lehnen. Natürlich. Die Angst kann sie nie ganz verlassen, denn sie ist Teil von ihr selbst, aber vielleicht versucht sie ja, heute Nacht ein bisschen stillzuhalten. Und vielleicht schaffen sie es zusammen, sich Schritt für Schritt immer mehr zuzutrauen, sich peu à peu zu verwandeln?


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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Jessica, 25 Jahre