Wo wir wieder atmen

Wettbewerbsbeitrag von Christina Unger, 21 Jahre

Ich wollte den Motor nicht ausschalten und ich wollte nicht aus dem Auto steigen.
Es war das Haus am Meer, was ich am meisten hasste.
Ich bin damals direkt ausgezogen und habe seitdem niemanden von ihnen gesehen.
Weder Mama noch Papa und auch nicht Markus.
Schon lange ist Mama krank und jetzt bleiben ihr nur noch einige Tage.
Sie bat uns zu kommen, um Abschied zu nehmen.
An einen Ort, wo ich nicht richtig atmen kann.
Die Tür flog auf und Papa schaute raus. Ich versteifte mich, rang nach Luft und schaltete den Motor aus.
Die Tür blieb offen, er war auch wieder fort.

Das Holz knartschte unter meinen Füßen. Außer meinen Schritten hörte ich nichts.
Ich bog nicht ab in Mamas Zimmer. Erst wollte ich meine Sachen abstellen.
Die Stufen der viel zu engen Treppe hörten sich nicht so an, als würden sie mich halten. Ich ertrug es nicht, mich selber durch die Stille gehen zu hören und so rannte ich die Treppe hoch, nahm zwei Stufen auf einmal und kämpfte mich nach oben, bis mich meine alten vier Wände empfingen. Lichtdurchflutet und mit dem Ausblick aufs Meer.
Durch das Fenster sah ich die Wellen gegen die hohen Klippen schlagen und ich konnte ihren Aufschlag förmlich hören. Ein gewaltiges Klatschen prallte auf die eisigen Steine und hinterließ einen nassen Fleck. Die feuchten Wassertropfen flossen runter, als würden die Klippen vor Schmerzen weinen. Wie von selbst drehte ich meinen Kopf zur Seite und entdeckte mein Gesicht im Spiegel. Ich suchte etwas in dem blassen Gesicht.
Wollte überprüfen, ob auch ich wie die Steine weinte. Ob da nicht doch noch die Schwellungen von damals über meine Haut rannten.
Ich entdeckte keine lila Flecken, nur aufgeschreckte Augen.

"Hallo Hannah". Markus stand vor meiner Tür. Seine Schultern angespannt.
Habe ihn gar nicht bemerkt.
Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass sein Auto nun ebenfalls in der Einfahrt stand. Vorsichtig trat mein großer Bruder zu mir ans Fenster.
Ich wollte ihn umarmen oder die Hand geben. Ich wusste aber nicht genau, wie und was, also tat ich nichts.
Er lächelte nicht, aber es tat gut ihn zu sehen.
Ich wusste nicht wieso.
Wir waren nie eng miteinander, kannten uns kaum. Als Kinder lebte jeder für sich in seinem eigenen Zimmer. Manchmal hörten wir den anderen weinen und doch sprachen wir nie.
"Du warst auch noch nicht unten?” fragte ich leise.
"Ich dachte, wir gehen zusammen.”
Erleichtert über seine Antwort griff ich hastig nach seiner Hand.
Erschrocken von meiner unerwarteten Bewegung, zuckte er zusammen und trat hastig einen Schritt zurück. Verdutzt lachte er laut auf und drehte seinen Kopf verlegen zur Seite.
Mit glasigen Augen versuchte er mich anzugrinsen.
"Entschuldige” brachte er unsicher heraus.
"Alles gut. Ich verstehe.”
Wir schwiegen, dann lachte er erneut, während ihm Tränen übers verzweifelte Gesicht rannten.
Mein Bauch zog sich zusammen.
"Vielleicht werde ich einfach verrückt” rief er theatralisch. Dann hörte sein Lachen abrupt auf, seine Stimme versagte und er schluchzte schwer auf.
Panisch und mit wenig Stimme wiederholte er: "Ich habe solche Angst Hannah, ich habe solche Angst.”
Und ich stand nur da und empfand Mitleid mit meinem älteren Bruder, während Übelkeit in mir hoch kroch. Sein absurder Zustand spiegelte meine innere Hilflosigkeit wider und es erschrak mich.

Er war mager und groß und lang. Schatten im Gesicht, als hätte er seit Jahren nicht geschlafen. Als wäre er um hunderte von Jahren gealtert.
"Ist das Leben besser geworden, nachdem du ausgezogen bist?” fragte ich, während er sich die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte. Sein Mund öffnete sich leicht, als wollte er etwas sagen und schloss sich dann wieder.
Er durchquerte den Raum, um sich anschließend auf meinem Bett niederzulassen.
"Ja, irgendwo schon”, antwortete er mit müder Stimme.
Ich habe eine Frau kennengelernt. Sie ist schön. Sie liebt mich wirklich. Mit ihr ist es leicht und dann bin ich wirklich glücklich. Wir wollten sogar heiraten.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Der alte Mann, der eigentlich nicht so alt ist, wie er aussieht, saß nun da, die Hände gefaltet im Schoß und schaute aus dem Fenster.
"Ihr wolltet heiraten? Jetzt etwa nicht mehr? Sie scheint dir doch gut zu tun", bemerkte ich vorsichtig. Sein Lächeln fiel und seine Brauen zogen sich leicht zusammen. "Das tut sie auch. Sehr sogar” brachte er hervor, als müsste er sich verteidigen. "Es ist nur so, dass sie mal Kinder haben möchte", sprach er überraschend klar heraus und blickte mich mit prüfendem Blick an. Gespannt, ob ich wohl erahnen könnte, warum das ein Problem in ihrer Beziehung sei.

Mit jeder Minute in diesem Haus verstand ich, dass Markus und ich damals nicht fliehen konnten vor dem, was hier passiert ist. Die Wunden sind so frisch wie damals. Die Ängste sind dieselben, die Prägung zu stark, der Fluch mitten in unserem Leben. Nach all den Jahren, immer noch nicht heil. Als könnte er meine Gedanken lesen, schnaubte er wütend: "Er quält dich immer noch, nicht wahr?".Ich nickte und mich verließ das seltsame Gefühl der jahrelangen Einsamkeit.
Markus verstand mich besser als es jeder Freund und Partner in den letzten Jahren tat.
Denn keiner blutete aus den selben Wunden wie wir und keiner hörte das zornige Brüllen, sobald man Abends allein im Bett lag und die Augen schloss. Die Holzdielen der untersten Etage knartschten und wir beide schreckten hoch.
Nichts regte sich.
Markus sah mich an.
"Mama und Papa warten wohl”.
Schmerz breitete sich auf seinem Gesicht aus und ich teilte ihn.

In ihrem Schlafzimmer fanden wir Mama wie erwartet in ihrem Bett liegen. Doch ihr Körper war von einem weißen Laken bedeckt. Mein Herz sank und ich fühlte nichts. Ich wusste nicht, wie ich Luft schnappen soll. Sah ihn nur an. Der Mann im Stuhl. Sein Blick beschämt zu Boden. Er räusperte sich, erhob sich, kam näher. Ich wollte weinen, doch konnte nicht. Und das Theater begann:
"Für sie würdet ihr kommen, das wusste ich", warf er seinen Kindern vor.
"Seit wann?”  fragte Markus, ohne ihn dabei anzusehen.
"Sie ist gestern Abend gestorben”, antwortete unser Vater.
"Hätte ich es euch gesagt, wärt ihr nicht gekommen.”
Die Haustür fiel ins Schloss.
Stille im Haus.
Markus war nicht mehr da.
Ich lief ihm hinterher, hörte meinen Vater brüllen, atmete Salz und Wind.

Wir betrachteten, wie die wuchtigen Wellen immer und immer wieder gegen die hohen Felsen schlugen.
Und ja, die Klippen weinten nach dem Schlag, die Tränen flossen unaufhörlich, bis die nächste Welle dagegen klatschte.
Und trotzdem brachen die Felsen nicht.
Trotzdem wuchsen sie empor und hielten ihre Stellung.
Stürme kamen und brachen erodierbares Gestein ab, doch hinterließen widerstandsfähige Klippen.
Stärker als das Meer und größer als der Schmerz.
Ich umarmte ihn, meinen großen Bruder, zum ersten Mal.
Erzählte ihm von meinem Ungewitter damals im Kinderzimmer.
Und er von seinem.
Und so taten wir es den Klippen gleich und wir beide weinten.
Doch wir brachen nicht.
Zum ersten Mal, da heilten wir.
An dem Ort, wo wir verletzt worden sind.
Wo wir heute wieder atmen.
Wo Papas Fäuste uns nicht brechen können.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.