Es ist ein dunkler Abend, den der Wind mit seiner angenehmen Luft umhüllt und dadurch die mittlerweile leeren Straßen wiederbelebt. Das einzigen Lichter sind die vielen Laternen, die brennenden Lampen, die durch das Fenster scheinen, sowie die schöne Abendsonne, die zwischen all den Häusern zu sehen ist.
„Gib mal eins her“, sagt der eine Kerl zu seinem Kumpel, mit dem er sich eine Gummibärchenpackung zu teilen scheint. Sie sitzen beide wie gewöhnlich auf dem Dach eines großen Hauses, um den schönen Ausblick zu genießen. Es tut ihnen gut, ihre Zeit zu vertreiben. Auch wenn sie nicht über das reden, was sie bedrückt.
„Weißt du, was ich mich frage?“, erzählt er überlegend und reicht die gewünschte Packung Gummibärchen seinem Freund rüber.
„Was denn?“
„In all diesen Wohngebäuden sowie Häusern, leben so viele Menschen, die gerade mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben. Ist das nicht verrückt?“
Eine klare Antwort bekommt er nicht, aber dafür ein lautes Schmatzen und unverständliche Worte. Hat er jedoch sowieso nicht nötig, da seine Gedanken sich tief und fest mit dieser Frage beschäftigen. So, dass er alles um sich herum ausblendet. Also starrt er auf ein graublaues Wohngebäude, die ihm durch die bunten Blüten an den Fenstern besonders ins Auge sticht.
"Schon wieder? Emma raff dich! Das kann so nicht weiter gehen! Du bist fast in jedem Fach negativ.“
Ein weiterer Abend, an dem die Diskussion über ihre Noten nicht aufhören. Ihre Mutter möchte nicht einsehen, wie überfordert sie zurzeit ist, keine Kraft für die Schule hat und am liebsten den ganzen Tag schlafen würde.
Voller Zorn und Wut knallt Emma, die im Obergeschoss wohnt, die Türe hinter sich zu. Im Zimmer angekommen legt sie sich in ihr kuschliges, warmes Bett und lässt ihren Tränen freien Lauf. Ihr Blick richtet sich auf die Decke ihres Zimmers, wo viele bunte Sterne an der Wand kleben, die eigentlich in der Nacht leuchten sollten, jedoch leuchten sie nicht mehr. So wie Emma. So leer fühlt sie sich, aber wahrscheinlich nicht so leer wie ihre 13 Jahre ältere Nachbarin Lea.
„Nur noch paar Gewürze und meine Tomatensoße ist bereit, um verspeist zu werden. Knoblauch, Pfeffer… ah und Salz." Das mit Abstand wichtigste in jedem Gericht. Während sie ihr Essen zubereitet, läuft gerade auf dem Fernseher eine öde Serie. Sie sucht lange die Fernbedienung, die sie nach gefühlten Ewigkeiten auch endlich findet. Jedoch scheinen die verdammten Batterien leer zu sein. Verärgert widmet sie sich ihrem verstaubten Regal zu, in der Hoffnung, Ersatz-Batterien zu finden. Dabei fällt ihr eines ihrer Lieblingsbücher herunter und ein kleines Bild fällt auf ihren kalten Boden. Mit zittrigen Beinen bückt sie sich runter, um das kleine Bild aufzuheben und dreht es vorsichtig mit der verschwitzen Hand um. Es ist nicht irgendeine Bild. Es ist ein Bild von ihr und ihm. Das Duo, welches nicht mehr existiert. Ein "wir" gibt es mittlerweile nicht mehr, aber das Bild mit einer kleinen Notiz auf der Rückseite, dass sie damals nach der Trennung wohl übersehen hat, lässt sie an die schöne Zeit erinnern.
„Ich liebe dich Lea.“ liest sie mit einer gebrochenen Stimme vor.
Das Atmen fällt ihr schwer und sie muss an ihn denken. Er hat sie betrogen und das sogar mit einer sehr guten Freundin. Lange steht sie da mit dem Foto. Sie muss an den Ausflug, an die tollen Erinnerungen und an die bitterliche Trennung denken. Ihre Tränen verschmieren ihre teure Mascara. Und wahrscheinlich, wird die Mascara der Freundin ihrer Nachbarin Katrin morgen genauso verschmiert sein.
Viele Drinks, leckere Snacks und schöne Kleider, die mit dem großen weißen Zimmer perfekt harmonieren. Es scheint alles gut zu laufen, bis sich alle in eine Runde versammeln, um den Abend mit einem Spiel zu versüßen.
„Pflicht, Wahl oder Wahrheit?“
Ihr Atem bleibt stehen als sie die Frage hört. Sie schluckt laut auf und die unzähligen Blicke machen die Situation nicht besser. Die Party mit ihren zahlreichen Freundinnen, bei der sie ausnahmsweise sein darf, lief doch super. Wieso nun dieses blöde Spiel, wo immer unangenehme Fragen auftauchen?
„Also wenn du nicht antwortest, musst du halt Wahrheit nehmen.“ zwingt eines der Mädchen sie.
Verdammt.
„Liya sag mal, wie ist es eigentlich so, Deutsch nicht zu können?“
Alle lachen außer sie selbst. Liya ist erst seit mehreren Jahren hier und kann die Sprache dementsprechend nicht so perfekt beherrschen. Keiner nimmt sie in Schutz. Keiner sagt etwas oder lacht nicht mit. Genau das macht sie so traurig.
„Weißt du eigentlich was Artikeln sind?“ und nun lachen sie wieder, so als wäre sie nicht da und würde es lustig finden.
Jeder sieht ihre Fehler, aber keiner ihre Bemühungen, um sich zu verbessern. Wieso merken Menschen sich nur die Fehler? Was ist mit all den anderen Dingen? So viele Fragen, die wohl auch Fragen bleiben werden.
Irgendwann hören alle auf zu lachen und fangen an weiterzuspielen, doch in ihrem Kopf hört sie weiterhin das grässliche Lachen, wobei sie sich bemüht, nicht mehr daran zu denken, damit sie jetzt ja nicht in Tränen ausbricht. Das wäre sicherlich noch ein Grund, um sie zu hänseln.
Dafür verspürt sie Trauer, viel Trauer, aber wahrscheinlich ist ihre Trauer nicht so groß wie bei den Nachbarn über ihnen.
„Gut, ich zähle von 3 runter und dann drehst du den Test um, okay Schatz?“
Die Spannung steigt mit jeder Sekunde und die Freude, endlich Eltern werden zu können genauso.
„3-2-1“ beide lächeln breit, bis sie das Ergebnis sehen. Nur ein Strich. Was sie nur alles geben würden, um endlich 2 Striche zu sehen, ihr Kind in ihren Armen halten zu können und schlaflose Nächte durchzumachen. Ihr einziger Wunsch, für den sie alles tun würden, der jedoch unmöglich scheint. Beide brechen in Tränen aus, jedoch weint die junge Studentin deutlich mehr, weshalb ihr Mann sie in die Arme nimmt und ihr sanft: „Wir werden nicht aufgeben.“ zuflüstert.
Ihr Traum Mutter zu werden, ist riesengroß.
So verbringen sie den demotivierenden Abend, während ihr Nachbar Mateo ganz andere Sorgen hat.
Nun liegt sie da und zuckt paar mal. Wahrscheinlich vor Schmerz, sowie vor bitterlicher Angst. Ihre Haare bedecken ihr mittlerweile rotes Gesicht und Mateo ist ziemlich froh darüber, da er ihr Leid nicht ertragen kann. Und ihre Augen zu sehen, die förmlich nach Hilfe schreien, würde ihn zerstören. Was soll er schon mit seinen jungen Jahren unternehmen können? Also sitzt er dort, betend zu Gott, mit voller Geduld, damit sein Vater raus geht und er zu seiner Mutter rennen, sie in eine warme, lange Umarmung schließen kann. Wann hört das Leid auf, fragt er sich selbst. Sollte ein Kind solche Probleme haben? Sollte ein Kind sich um solche Gedanken kümmern? Er weiß es nicht. Das einzige, wonach er sich gerade sehnt, ist eine warme Umarmung seiner Mutter.
Wahrscheinlich wünschen sich seine Nachbarn unter ihm, genauso eine feste Umarmung
Und schon wieder läutet das Telefon der Familie, die gerade dabei ist, die restlichen Tränen aus ihrem verheulten Gesicht wegzuwischen.
„Mein Beileid, ich hoffe sie ist jetzt an einem besseren Ort“ wünscht ihnen ein Freund der Familie. Alle sind erschüttert von dem Anruf, den sie heute Morgen bekamen. Dabei war ihre Verwandte noch so jung und gesund.
„Wieso musste sie von uns gehen?“ erkundigt sich das jüngste Kind der Familie.
„Weißt du, der Tod kennt kein Alter, vielleicht steht er in 10 Minuten vor der Tür, aber vielleicht auch in 10 Jahren. Und genau das ist das besondere an dem Tod. Keiner kann uns sagen, wann er uns besuchen kommt.“ versucht der Vater zu erklären, der genauso überfordert mit der Situation ist.
Er reißt sich zusammen, um seiner Familie Mut zu machen, erklärt ihnen, warum man jeden einzelnen Tag so leben sollte, als wäre es sein letzter und versucht sie abzulenken.
Seine Blicke wenden sich nach langer Überlegung wieder von dem Wohngebäude zu seinem Freund, der gerade in der Gummibärchen Packung herumwühlt und seine Lieblingssorten aussortiert. Schnell zieht er ihn in eine lange Umarmung. Mit erschrockenem Blick erwidert sein Freund schlussendlich die unerwartete Handlung. Er umarmt ihn, weil er nicht weiß, mit welcher dieser Geschichten er sich vielleicht identifiziert. Vielleicht ist es auch eine andere und hat gar nichts mit all dem zutun, aber das ist nicht wichtig. Das Einzige, was all diese Menschen brauchen, ist eine warme Umarmung und Hoffnung. Hoffnung, die tief in ihrem Inneren steckt. Und selbst, wenn sie denken, dass ihr Weg, in dem sie sich befinden, keinen Ausweg hat, geben sie nicht auf, weil ein Funken Hoffnung existiert.
So geht es ihm genauso. Oft steht er mitten in seinen Problemen, denkt, er müsse aufgeben, aber das, was ihn davon abhält, ist seine Hoffnung. Irgendwann werden die Sterne an der Decke wieder leuchten, die Wunden werden heilen, richtige Freunde werden kommen, der größte Wunsch, wie in dem Fall Eltern zu werden, wird in Erfüllung gehen, das Leid wird aufhören und die Trauer, die für manche endlos wirkt, wird irgendwann vergehen. Jeder Mensch, der an uns vorbeigeht, hat eine eigene Geschichte, von der wir nichts wissen.
Wenn du die Hoffnung nicht aufgibst und dich mit den Leuten umgibst, die diese Hoffnung am Leben halten, merke dir: Der Ausweg ist nie zu weit entfernt.