Dumpfe Schmerzen im Kopfbereich schränkten mein Sichtfeld ein. Ein Knall ließ mich zusammenzucken. Laute Schreie. Unerträgliche Rufe. Metallsplitter, die wie Regentropfen auf den Asphalt niederschmetterten. Dichter Nebel, der mich wie eine Blase umgab. Dann schloss ich meine Augen. Nichts als Dunkelheit, die mich von der Realität abschirmte und dann, wie aus dem Nichts, der Anfang eines neuen Kapitels…
Ich lenkte mein Rollstuhl in Richtung des Grabes meiner verstorbenen Frau. Es lag umzäunt neben einer großen Trauerweide. Mit einem Lächeln legte ich neue Blumen neben ihr Grab. Ich dankte ihr, dass sie mich zu dem glücklichen Menschen machte, der ich nun geworden war. Im Hintergrund erstreckten sich nahezu endlose Felder. Mir fiel auf, dass nun ein weiteres Grab neben dem meiner Frau aufgestellt war. Ich wollte es gerade genauer untersuchen, als ein kleiner Junge sich auf der Bank niederließ, die direkt neben meinem Rollstuhl stand. Ich schätzte den Jungen auf ungefähr 10 Jahre. In seinem Gesicht saß die blanke Trauer. Wie ein Schwall kaltes Wasser erdrückte sie seine kleine Gestalt und ließ in zerbrechlich wirken. Ohne ein Laut von sich zu geben, atmete er tief ein und sein Blick ruhte auf dem Grab, was neben dem meiner Frau stand. Eine Träne verließ sein rechtes Auge. Ich beobachtete, wie die Träne langsam über seine Wange floss. Er schluckte einen Kloß hinunter und ich spürte, wie der Schmerz seine kleine Gestalt einnahm. Mit meiner alten und faltigen Hand strich ich die Träne von seinem Gesicht. Meine Hand zitterte. Er blickte erst meine Hand an und schaute dann das erste Mal zu mir. Seine blauen Augen schimmerten durch die Sonnenstrahlen, die auf seine wässrigen und tränenunterlaufenen Augen trafen. Sein Anblick zerbrach mich beinah und ein Schmerz zuckte über mein Herz. „Meine Mutter ist vor zwei Wochen gestorben“, seine zarte Stimme wurde von einem herzzerreißenden Schluchzen unterbrochen, was seine Stimme brach und ihm am weitersprechen hinderte. Tränen traten aus seinen Augen und kullerten über sein Gesicht und tropften letztendlich auf die braune Bank. Ich räusperte mich und begann zu sprechen. Meine tiefe Stimme bildete einen Kontrast zu seiner jungenhaften Engelsstimme. „Darf ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte ich vorsichtig und blickte wieder zu dem Jungen. Er atmete tief ein und nickte aber. „Es war einmal ein kleiner Junge", begann ich und schaute auf die Trauerweide, die sich sanft im Wind bewegte. Sein Kindheit konnte er nie ausleben. Er musste schon früh arbeiten gehen, um für seine Familie zu sorgen. Nach einer Zeit brach der Krieg aus. Erst wurde nur die Schule unterbrochen, was für ihn eher weniger ein Problem war“, ein Schmunzeln huschte über das Gesicht des Jungen. „Dabei blieb es aber nicht. Der Krieg nahm ihm alles. Er lebte in ständiger Angst. Bomben zerstörten sein Zuhause, das er mit seiner Kindheit verband. Freunde der Familie zogen als Soldaten fort. Freunde starben an Hungersnot oder Bombeneinschläge. Seine Schwester starb unter den Trümmern der zerfallenen Gebäude. Der Vater wurde erschossen. Neben seine Augen. Er war dabei. Er sah es. Alles. Es nahm ihm den Boden unter den Füßen. Der Schmerz war unerträglich. Er wollte sterben. Jahre lang lebte er in tiefer Trauer. Das Leben empfand er nicht als lebenswert. Er wurde älter und weiter Krisen prägten sein Leben. Erste Beziehungen, die in Schmerz und Liebeskummer endeten. Die erfolglose Suche nach Arbeit, um irgendwie überleben zu können. Zumindest körperlich. Seelisch war er tot. Schon lange. Als er Mitte 20 war, realisierte er, dass sein Leben ein Scheiterhaufen war, das kurz davor war, als nächste Ladung beim Schrottplatz abgegeben zu werden. Er dachte, dass es sein Schicksal war, ein trauriges Leben zu führen. Er war davon überzeugt, dass er nichts ändern bräuchte, weil sonst eh die nächste Krise folgen würde. Doch dann kam es zu dem Unfall. Der junge Mann sah sein Leben an ihm vorbeiziehen. Er dachte, er würde sterben. Lange Zeit lag er im Koma. Immer wieder kamen die Ärzte ins Zimmer und sagten, dass es hoffnungslos sei. Der Mann mit dem unerfüllten Leben musste sterben. Die Ärzte kamen und wollten die Maschinen, die ihm bislang am Leben hielten, abschalten. „Stop", schrie er „ich kann noch nicht sterben. Ich hab noch gar nicht richtig gelebt. Es kann jetzt noch nicht vorbei sein“. Die Ärzte waren schockiert. Sie fanden heraus, dass der Gesundheitszustand des Mannes, sich wie aus dem nichts gebessert hatte. Er lernte Schritt für Schritt die Dinge neu. Sprechen, laufen, Essen und Trinken. Seine Willenskraft blieb und er schaffte es aus dem Krankenhaus raus. Das war der Zeitpunkt, an dem er anfing, ein neues Leben zu führen. Der Unfall war sein Neuanfang. Später fragte man ihn immer wieder, wie er es geschafft hatte, diesen tödlichen Schlaganfall zu überleben. Er antwortete jedes Mal, dass er plötzlich die Kraft des Lebens gespürt hatte. Er hat realisiert, dass er sich sein ganzes Leben in seinem eigenen Schatten aufgehalten hatte. Er hat sich in Selbstmitleid gesuhlt und hatte zugelassen, dass die Dunkelheit ihn ganz einnehmen konnte. Als sein Leben dann auf der Kippe stand und kurz vorm Ende war, merkte er, dass er sein Leben nie genutzt hatte. Er hatte nie gelebt. Und wie sollte ein Mensch sterben, der nie gelebt hatte? Es war die Hoffnung, die ihm vor dem Tod bewahrte. Er realisierte, dass der Impuls ein erfülltes Leben zu führen, immer von einem selbst aus kommen muss. Es ist ein Prozess von innen heraus. Er musste seine Einstellung zum Leben ändern. Es dauerte eine Zeit, aber er spürte Veränderungen. Aus jeder Krise nahm er Lektionen und wendete sie zum Positiven. Es gab in seinem Leben keine Probleme mehr. Nur Herausforderungen. Er meinte, dass das Leben einem nicht immer nur Gutes vor die Tür stellte. Nein manchmal, da hat man das Gefühl , dass das Leben einen immer wieder auf die Probe stellt und es einen innerlich zeriss. Aber auch aus jedem Tiefpunkt in seinem Leben machte er ein Höhepunkt, denn aus jeder schwierigen Zeit nahm er eine neue Erkenntnis mit. Der Schritt aus der Trauer heraus, mag schwierig und kraftaufwendig sein, zeigt aber, was für eine Willenskraft in jedem Menschen steckt. Er malte sich immer den Moment aus, an dem er lächelnd zurückblickt und einfach dankbar dafür ist, dass er sich dort durchgekämpft hat. Alleine das Gefühl ist es wert, den Kampf anzutreten. Sein Opa erzählte ihm immer, dass das Leben wie ein kleiner Bach sei und man sich von diesem treiben lassen muss. „Mein Leben“, sagte er immer wieder „war nie nur ein Bach. Nein, es war ein brausender und reißender Fluss mit großen Steinen, die dem Fluss die Gleichmäßigkeit nahmen und ihm am sanften Weiterfließen hinderten. Doch gerade deshalb lernte ich, mich in den Strömungen aufrecht zu halten und die überwältigende Kraft des Lebens zu genießen". Ich blickte zu dem Jungen neben mir, dessen Tränen ausgetrocknet waren. Seine Augen strahlten und in seinem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Das war eine schöne Geschichte", sagte er mit einem träumerischen Ausdruck. Ich antwortete „Es war meine Lebensgeschichte und nun schreib du deine eigene…“