Es ist immer die gleiche Angst, wenn man einen dieser Briefumschläge öffnet. Wie hoch ist die Rechnung dieses Mal? Wird man dieses Mal über den Monat kommen? Gerade jetzt, wo die Strompreise in die Höhe schnellen und man mit seinem Teilzeitjob kaum hinterherkommt.
Tanja atmet tief durch, bevor sie die Rechnung aus dem Umschlag zieht. Ihre Augen wollen am liebsten in die Ferne sehen und der gewaltigen Zahl entgehen. Wie viel wird es dieses Mal sein?
Scheiße. Tanja schüttelt den Kopf. Das geht über ihre letzten Reserven hinaus. Wo soll sie jetzt das Geld hernehmen? Kann sie denn nicht vielleicht eine Vollzeitstelle an der Supermarktkasse annehmen? Nein, dann hätte sie keine Zeit mehr für ihre beiden Kinder. Jasper ist gerade erst in die zweite Klasse gekommen und Laura schlägt sich durch die neunte Klasse. Sie brauchen ihre Mutter. Sie brauchen Tanja, und das weiß sie, aber wie soll sie denn sonst an das Geld kommen?
Wäre Mark bloß dageblieben. Sie waren doch das perfekte Pärchen gewesen in der Schule, doch auf einmal wurde ihm das alles zu viel. Er hat Tanja mit Laura und Jasper allein gelassen, zurückgelassen. Ja, er hat sich nie wieder gemeldet und von finanzieller Unterstützung konnte Tanja nur träumen. Jasper hatte ihn nicht einmal kennenlernen können. Manchmal, da fragt er noch nach seinem Vater und Tanja erzählt ihm dann von einem großartigen Mann, der er vor vielen Jahren gewesen war. Dann ist Jasper immer ganz stolz, sein Sohn zu sein und ist überzeugt, dass sein Vater weggegangen ist, um wie Batman das Verbrechen zu bekämpfen. Laura kennt ihn und sie vermisst ihn. Manchmal wenn Jasper schon schläft, weint sie sich an Tanjas Schulter aus. Dann fragt sie, warum er fort ist und ob er sie denn nicht liebt? Ja, sie gibt sich seit jeher selbst die Schuld für sein Fortgehen, doch Tanja versucht jeden Tag mehr, diese Last von ihrer Tochter zu nehmen. Sie ist nicht schuld gewesen und sie solle wissen, dass ihre Mutter sie liebt.
Dies sind die Kämpfe, die sie kämpft, seitdem Mark fort ist. Sie war aufgestanden, nachdem er sie verlassen hatte. Sie war für ihre Kinder dagewesen, wenn er nicht einmal an sie dachte. Und jetzt sitzt sie vor dieser gigantischen Rechnung. Die Zahlen starren sie bedrohlich an. Tanja kämpft mit den Tränen. Erschöpft legt sie ihren Kopf auf die Tischkante und blickt auf den verfransten Teppich. Dies ist einer dieser Tage, wo man eben nicht weiß, wie es weitergehen soll und wo man einfach keine Hoffnung finden kann. Doch sie hat schon viele von diesen Tagen überwunden. Sie hat immer für ihre Kinder sorgen können und das solle sich heute auch nicht ändern. Nur wie?
Plötzlich klingelt es. Das müssen die Kinder sein! Schnell packt Tanja die Rechnung und stopft sie in eine Küchenschublade. Sie drückt den Türöffner und wartet im Treppenhaus darauf, dass die beiden kommen. Schnell streift sie sich noch die Tränen aus dem Gesicht.
„Mama!” Jasper springt munter die Treppen hinauf und läuft Tanja in die Arme. Fest umarmt sie ihn und versucht, mit einem tiefen Atemzug letzte Sorgen weichen zu lassen. Die beiden sollen nichts von ihrer misslichen Lage erfahren. Das wird schon wieder!
„Na mein Großer! Wie war dein Schultag?”
„Toll!” Er grinst über beide Wangen. „Guck mal, Luis und ich haben unsere Autos getauscht!” Stolz präsentiert er ihr ein Spielzeugwagen.
„Der sieht aber cool aus!”
„Ja, der ist auch so richtig schnell. Darf ich den ausprobieren vor dem Essen?”
„Gerne, aber sei zum Essen rechtzeitig da!”
Mit einem großen Nicken rauscht Jasper an ihr vorbei und verschwindet in seinem Kinderzimmer.
„Und wie war dein Schultag, Laura?”
„Gut.”
Tanja merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Den Kopf trübselig nach unten gerichtet, betritt ihre Tochter die Wohnung. „Ist irgendetwas passiert?”
„Nein, Mom. Alles gut!”
„Du weißt, du kannst mit mir über alles reden!”
Ein genervtes „Jaja” stößt hervor und Laura verzieht sich auf ihr Zimmer.
Tanja beginnt mit dem Essenkochen. Schön, dass wenigstens Jasper heute gute Laune hat. Während sie in der Küche ist, fallen ihr die Rechnungen in die Augen. Sie lugen aus der Schublade heraus. Ein kalter Schauder erfasst sie. Es ist wie ein bedrohlicher Schatten, der sich über ihr Leben legt. Immer dieses verdammte Geld!
„Mom?”
Tanja dreht sich um und sieht Laura vor sich. Man erkennt, dass sie eben gerade geweint hat. Ihre Augen sind noch immer glasig. Fest nimmt Tanja sie in den Arm.
„Was ist denn, Laura?”
Da beginnt sie zu weinen und sucht hilflos nach Worten. „Es...es sind die anderen Mädchen aus der Schule. Sie...?” Sie schluchzt.
Es bricht Tanja das Herz, ihre Tochter so sehen zu müssen.
„Sie sagen ich bin hässlich, weil ich kein Makeup trage.”
Tanja sieht ihr tief in ihre blaugrünen Augen. „Du bist wunderschön!”
„Das sagst du doch nur, weil du meine Mutter bist!”
„Ich sage das, weil du es bist. Du bist wunderschön und die anderen müssen blind sein, wenn sie das nicht erkennen. Sie brauchen scheinbar Makeup, aber du bist schon so wunderschön!”
„Danke, Mom!” Laura umarmt sie noch einmal fest und streift sich dann die Tränen aus dem Gesicht. „Aber mit einer Sache haben sie Recht, oder? Wir haben kein Geld, um uns so etwas zu leisten, oder Mom? Werden wir es diesen Monat schaffen?”
Laura stellt sich die gleichen Fragen, die sich Tanja seit dem Briefumschlag stellt. Werden sie es diesen Monat schaffen? Doch sie will nicht, dass ihre Tochter die gleichen Sorgen tragen muss. Sie soll das Leben genießen und sich freuen. Sie soll sich nicht um etwas wie Geld Sorgen machen müssen.
„In der Schule haben wir heute auch über die steigenden Preise gesprochen. Wir hatten doch noch nie viel, aber jetzt? Gibt es jetzt noch Hoffnung, Mom?”
„Es gibt immer Hoffnung. Weißt du als dein Vater fort ist, da habe ich mir die gleiche Frage gestellt. Da habe ich mich gefragt, ob es noch Hoffnung gibt. Und in dieser Welt gibt es viele Dinge, die uns jeden Atemzug von Hoffnung stehlen wollen. Es gibt viele Krisen und es gab schon immer viele Krisen. Ich war damals am Boden, als er gegangen ist. Wenn ihr beiden im Bett lagt, habe ich geweint. Manchmal die ganze Nacht durch. Ich habe keine Hoffnung mehr gesehen. Doch dann habe ich etwas für mich erkannt.”
„Was Mom?”
„Weißt du, in diesen Momenten, wo alles aussichtslos scheint, muss man eine Entscheidung treffen. Wie gehen wir mit diesen Krisen um? Krisen sind Herausforderungen und allzuoft haben wir sie uns nicht selbst in den Weg gelegt. Aber Herausforderungen sind machbar, auch wenn es manchmal nicht danach aussieht.
Ich war am Boden damals und sah mich nicht in der Lage, es zu schaffen. Aber dann eines Abends kamst du in mein Zimmer getappt und hast gefragt, ob du dich zu mir legen kannst. Da habe ich es erkannt. Füreinander und miteinander können wir diese Herausforderungen annehmen. Es wird nicht leicht, und es ist ein kräftezehrender Kampf. Doch dann sehe ich dich und Jasper und weiß, dass sich dieser Kampf gelohnt hat. Zusammen werden wir es schaffen, Laura. Zusammen schaffen wir einfach alles!”