Mit nackten Füßen steht sie am Fenster und starrt hinaus ins Dunkel, das direkt hinter dem dottrig gelben Schein der Straßenlaterne beginnt. Doch die Nacht hat tastende Finger, sie duckt sich hindurch unter dem Laternenschein, kriecht über den Fensterrahmen und greift ihr ins Haar.
Sie hält ein Weinglas in der Hand und obwohl sie sich Mühe gibt, es lässig zu halten, ganz ungezwungen, hält sie es ein wenig zu fest. Was, wenn das Glas in ihrer Hand zersplittert unter dem Druck? Sie hätte dann Wein auf dem Perserteppich und tausend Splitter im Handballen, die sie einzeln mit einer Pinzette heraussuchen müsste wie Aschenputtel ihre guten Körner. Der Gedanke beruhigt sie ein wenig – die Nacht würde schneller vorbeigehen, wenn sie sich um all diese Glassplitter kümmern müsste und um die Flecken auf dem Teppich.
Der Wind trägt einen weiteren Schwall Dunkelheit herein. Und eine Motte. Ihre Flügel sind mehr staubig als weiß und die kleinen Fühler pelzig wie Weidekätzchen. Einige Sekunden irrlichtert die Motte vor ihrem Gesicht umher, dann flattert sie in den Raum hinein und hinauf zur Deckenleuchte.
"Ich wünschte ...", sagt sie. Dann bemerkt sie, dass sie etwas Albernes sagen wird, und senkt vorsichtshalber ihre Stimme. "Ich wünschte", flüstert sie. "Du wärst wegen mir hier und nicht wegen dem Licht."
flappflappflapp, sagt sie Motte.
Noch ein Windstoß weht herein, doch er bringt keine Motten mehr mit. Warum zittert sie, wo in diesem Wind doch schon mehr Sommer ist als Frühling? Sie versucht, ihren Atem zu beruhigen, doch ihre Kehle ist eng wie zugeschnürt. Sie versucht, alles Rote in ihrem Zimmer zu zählen und danach alles Grüne, doch da ist zu wenig Grünes in ihrem Zimmer. Als sie hinabschaut, stellt sie fest, dass sie Wein auf ihr plissiertes Kleid geschüttet hat, Burgunderrot auf Grün. Sie zählt nochmal von vorn: Schnappi, das Plüschkrokodil. Der grüne Rahmen und darin das Foto von ihr und ihrer Mutter in den Vogesen. Das Kleid. Wie bekommt sie diesen Fleck je wieder heraus? Sie will ihre Mutter anrufen und fragen, aber sie ist doch nicht mehr dieses Kind mit dem Plüschkrokodil, sie hat diesen Perserteppich, diesen Arbeitsvertrag und diese Wohnung. Sie muss raus aus dieser Wohnung, weil da wieder dieses Erstickungsgefühl ist, sie flüstert "raus raus raus" mit dem bisschen Restluft in ihren Lungen. Das umgekippte Weinglas und die Motte müssen zurückbleiben, nur ihren Mantel nimmt sie mit, den Guten mit dem Anteil Angorawolle.
Draußen ist ein bisschen Luft, aber auch diese Pappel, deren Zweige im Dunkeln aussehen wie die arthritischen Finger einer Hexe, und die Stille. Sie will in die Stille hinausschreien als wäre sie ein Tier, das stirbt, oder ein Kind, das zu sterben meint, aber wenn man erwachsen ist, ein erwachsener Mensch mit Angora-Mantel und Arbeitsvertrag, dann stirbt's sich's höflich nur sehr leise.
Darf sie überhaupt noch hier sein? Ist denn noch Ausgangssperre oder schon wieder? Sie ist sich nicht sicher und beginnt deshalb wegzurennen, vor der Pappel oder vor einem Nachbarn, der unversehens aus dem Fenster rufen könnte: "Junge Dame, wie verantwortungslos, wie asozial! Und überhaupt – was ist das für ein Fleck auf Ihrem Kleid? Sind sie zu blöd, um Wein zu trinken wie normale Leute?"
Am alten Ententeich geht ihr schließlich der Atem endgültig aus. Sie stützt die Arme auf die Knie und keucht, die schweißnassen Haare hängen ihr wirr ins Gesicht. fuckfuckfuckfuck, denkt sie immerfort, weil ihr kein anderes Mantra einfällt. Die Nacht ist noch tausend Stunden lang und sie schafft keine Sekunde mehr.
"Entschuldigung", sagt da eine Stimme so sanft, wie man mit Kindern spricht oder mit verängstigten Tieren. "Möchtest du dich zu mir setzen? Ich hab Angst, dass du gleich in den Ententeich fällst."
Mühsam hebt sie den Kopf und sieht auf der Parkbank zwischen den Schilfrohren eine kleine Frau sitzen, erleuchtet von dem dottergelben Lichtkreis der Straßenlaterne. Ihr Mantel ist grün und ein wenig zu groß, sie hat drei silberne Ringe im Ohr und eine zarte Hand, die auf den Platz neben sich deutet.
"Was", sagt sie und starrt auf die Hand der Fremden. Auf den Handrücken ist mit schwarzen, filigranen Linien eine Motte tätowiert.
"Setz dich doch zu mir, komm. Die Enten sind schlafen gegangen, aber es sind noch Eulen unterwegs und Fledermäuse."
Obwohl – oder gerade weil – sie so sanft ist, hat die Stimme der Fremden etwas Gebietendes. Wie in Trance geht sie durch das Schilf und lässt sich neben die andere auf die Parkbank fallen. "Und Motten", sagt sie, noch immer ein wenig kurzatmig.
Die Frau im grünen Mantel lacht. "Und Motten! - Sag, geht es dir gut?"
"Ich ... hatte nur ein bisschen Angst."
"Oh." Die Frau nickt langsam und schaut über den Teich hinaus, als suche sie die schlafenden Enten. "Ja. Ein bisschen Angst haben wir alle mal. Besonders in diesen Zeiten."
"Ich ... will Ihnen nicht zur Last fallen", sagt sie, ohne es zu wollen. Nein, sie will auf dieser Bank sitzen bleiben, in diesem Lichtkreis und bei dieser Fremden, weil sie hier zum ersten Mal seit Stunden ein bisschen Luft bekommt.
Die Frau im grünen Mantel dreht sich um und schaut sie mit großen, verwunderten Augen an. Und das, was sie sieht, verleitet sie dazu, mit beiden Händen nach ihrer Hand zu greifen und sie festzuhalten. "Sei nicht albern", sagt sie. "Du sitzt hier nur. Ich sitze hier. Wir reden ein bisschen. Das ist schön."
Sie schaut hinab auf die Hände, die jetzt ihre Hand halten. Hände, deren Zartheit zu Tränen rühren könnte. Nun sieht sie auch, dass auf der anderen Hand das Tattoo einer Raupe ist, die träge und pelzig hinaufkriecht zu den Fingerknöcheln. Und weil die Augen der Frau so grün sind und ihr Haar ein wenig zerzaust, traut sie sich zu fragen: "Warum die Raupe? Man will doch nicht in seine alte Haut zurück."
"Oho! - Eine Freundin der Metamorphose." Die Fremde kichert ein wenig. Sie hebt beide Hände hoch und klimpert mit den Fingern in der Luft. "Aber sowas wie eine alte Haut gibt es doch nicht. Ich bin verwandelbar, aber alles, was ich einmal war, das bin ich noch. Ich bin die Motte und die Raupe."
"Das ist ja verrückt."
"Ein starkes Wort von jemanden, der gerade fast in den Ententeich gefallen wäre."
"Touché."
Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausdehnt, ist ein angenehmes. Langsam verschwinden die schwarzen Flecken vor ihren Augen, das Stechen in den Seiten lässt nach. Die Frau im grünen Mantel hält ihre Hand noch immer fest.
"Ich muss jemanden anrufen", sagt sie schließlich.
"Dann ruf an", sagt die andere. "Ich bleib' hier sitzen."
Sie fischt das Handy aus der Tasche ihres Mantels und wählt mit zittrigen Fingern die Nummer, die jedes Kind im Schlaf beherrscht. Obwohl es so spät in der Nacht ist, dass man schon vom Morgen sprechen könnte, nimmt sie augenblicklich ab. "Schatz? Ist alles in Ordnung?"
"Mama." Mutig schluckt sie an gegen den Knoten in ihrer Kehle. "Ich hab ein bisschen Angst. Kannst du mich abholen?"