Der Bruder noch im Tiefschlaf, die Mutter auf der Arbeit, der Vater im Himmel. Johanna quetschte noch ein letztes T-Shirt in den Koffer und ließ sich auf den Teppich fallen. Den Blick in ihrem Zimmer schweifend beendete sie das Gefühl, nicht zu Hause zu sein trotz zu Hause zu sein. Sie nahm schweigend Abschied von diesem Ort, an dem sie niemals sein wollte. Mehr als ein Jahr ist es her, seitdem ihre Familie vom Ahrtal an den Bodensee in die Wohnung der erst kürzlich verstorbenen Großeltern gezogen sind. Die Bemerkung ihres Vaters, dass ihr Tod doch etwas Gutes habe, erzürnte Johanna. In ihrer Welt konnte man im Tod keine Farben erkennen. Nicht weil er zu dunkel ist, sondern weil er vollkommen farblos ist.
Sie stand auf. Trotz des Neuanfangs sehnte sie sich nach einem Neuanfang. Sie wollte etwas in ihrem Leben so abrupt ändern wie der Regen es tat. Nur dass sie nun das Zepter in der Hand hielt. So als ob das positive des einen die Negativität des anderen ausgleichen, ja vielleicht sogar auslöschen könnte. Sie wollte dem Schicksal vor die Füße spucken. Sich nicht mehr anpassen an die Erwartungen anderer und vor allem sich selbst, ihren eigenen Weg gehen, wo immer er auch hinführen sollte. Den Rucksack, das Handy und ihr Portemonnaie hatte sie bei sich, das Antlitz des Moleturms das letzte mal vor sich. Die Wohnungstür schloss sie mit Acht, die Treppen nahm sie mit Hast.
Sie ging. Noch eine gute halbe Stunde hatte sie, bis ihr Zug kam, weshalb sie sich für einen Umweg über die Uferpromenade entschied. Durch die Bäckerei Schwarz hindurch, auf die Seestraße und dann die Promenade stadtauswärts entlang ließ sie sich von ihrer selbst leiten. Die Straßen waren ungewöhnlich belebt. Es spazierten Mütter mit Kinderwägen, Gruppen von Touristen aus fernen Ländern erkundeten die Geschichte der zerbombten Stadt und in den Cafés saßen junge Menschen, deren Merch Pullis verrieten ihr Privileg, an der ansässigen Privatuni studieren zu dürfen. Die Schwanenfamilie teilte sich mit dem vorbeifahrenden Zeppelin die Aufmerksamkeit vieler Kinder, aber auch Erwachsener. Es war als hätte diese Stadt plötzlich eine Seele, ja sogar einen Willen, nämlich sie zu überreden hier zu bleiben. Doch sie schritt weiter.
Sie stieg aus. Es war rappelvoll, das Neun-Euro-Ticket sorgte dafür, dass sie während der Fahrt direkt neben den Türen stehen musste. Verschwitzte und gestresste Menschen drängelten sich an ihr vorbei, wann immer der Regionalzug einen Halt machte. Obwohl sie eigentlich lieber eine Direktverbindung nach Stuttgart gewünscht hätte, war sie nun erleichtert dank der kurzen Augenblicke des Umstiegs.
„Gottverdammte Scheiße!“ fluchte plötzlich eine junge Frau, die wie eine Kunststudentin aussah und verbittert auf ihr Smartphone schaute. Als diese ihren fragenden Blick entdeckte, entgegnete sie leicht beschämt: „mein Zug nach Stuttgart verspätet sich wieder mal“.
Sie setzte sich. Es war der einzige der großen Tische, an dem noch niemand saß. Als sie gerade den ersten Schluck ihres Cappuccinos nahm, entdeckte sie einen jungen Mann, der die Cafébesucher mit leiser Stimme darum bat etwas Platz zu machen. Die Menschen reagierten freundlich, manche schon fast übereifrig. In manchen der Gesichter glaubte sie Scham oder ein ähnliches unbehagliches Gefühl zu entdecken. Erst als sich seine mit ihren Blicken kreuzten, verstand sie, dass ihr Tisch sein Ziel war. Hektisch stand sie auf, stellte den mittleren der drei übrigen Stühle beiseite und nahm ein kurzes aber ehrlich wirkendes „danke“ wahr.
„Wird hier nicht bedient?“ fragte er.
„Nein, aber drinnen können Sie sich Kaffee und Kekse von so einer coolen Selbstbedienungstheke holen“ antwortete sie. Als sich sein Blick von ihr abwandt, in eine andere Richtung zeigte und sein Gesicht plötzlich leicht verärgert wirkte, drehte sie sich um. Jetzt erst nahm sie die Stufen wahr, die sie stieg als sie ihren Kaffee holte. Entsetzt über ihre dämliche Antwort stand sie ein zweites Mal auf und sagte „ich hole es ihnen einfach!“.
Sie servierte. Er unterbrach das Tippen auf seinem Handy und bedankte sich. Dann fügt er hinzu: „schon mal auf dem Ulmer Münster gewesen?“
„Nein, leider noch nie!“ antwortete sie, ohne sich zu trauen zurück zu fragen.
„Ich auch nicht“ sagte er lachend. Die Selbstironie erstaunte sie. Sie stellten sich vor und kamen ins Gespräch. Er erzählte von seiner Dissertation, die er gerade schrieb, von dem Wohnungsmangel in der Stadt und seiner Bewunderung gegenüber Robert Habeck und seinem Politikstil. Sie erzählte ihm von ihrer Herkunft, der Katastrophe im letzten Sommer, ihrem neuen Zuhause am Bodensee und schließlich von der Tat, die sie an diesem Morgen begonnen hat. Dem Verlassen ihre Familie und dem Ablehnen ihrer neuen Heimat.
„Der Regen ist bereits gefallen“ sagte er. Sie runzelte die Stirn. „Deine Heimat ist bereits zerstört, dein Dorf mit Schlamm verschüttet, deine Sachen vom Fluss mitgenommen. Du musst es hinnehmen wie es ist, ohne davor weg zu rennen, denkst du nicht?“.
„Ich renne vor gar nichts weg!“ entgegnete sie etwas gereizt.
„Du bist nicht in der Lage, dich den Dingen zu stellen, noch nicht einmal meiner Frage“.
„Du weißt nicht wie sich das anfühlt, hast keine Ahnung, wie groß der Schmerz ist“ fauchte sie ihn an.
„Schmerzen haben keine absolute Größe. Sie sind immer relativ zu anderen Schmerzen zu betrachten. Du bildest dir so lange ein, große Schmerzen zu haben, bis da eine Tragödie um die Ecke kommt und die neuen Schmerzen alle anderen belanglos erscheinen lassen“.
Sie ließ die Worte wirken. Es war nicht von der Hand zu weisen. Für einen Augenblick sehnte sie sich nach etwas Schlimmem, nur um den Schmerz zu lindern. Sie schämte sich für ihre Gedanken. Sie fragte sich, was wohl in seinem Leben die größten Schmerzen waren.
„Mein Chef wartet auf mich, ich muss los“ unterbrach er ihr Vorhaben, ihn danach zu fragen.
Sie verabschiedeten sich. Plötzlich war er weg und sie allein. Noch nie fühlte sie sich so allein. Sie blieb sitzen, plötzlich merkte sie, die Zeit völlig vergessen zu haben. Sie schaute auf die Uhr. Der Zug war abgefahren.