Ich will da nicht rein!

Wettbewerbsbeitrag von Linus Bertram, 21 Jahre

Entsetzt starre ich auf das Loch. „Ich will da nicht rein!“, beschwere ich mich. Die Stewardess erklärt noch einmal die Situation für mich: „Die Treppe ist leider defekt. Um das Flugzeug zu verlassen, müssen Sie die Rutsche benutzen.“ Ich blicke sie verzweifelt an. Ihr Gehabe ist freundlich, doch irgendetwas an ihrem Blick stört mich. Ihre Augen wirken kalt und leer und ich spüre, wie es mich fröstelt. „Na gut“, murmel ich. Mir ist speiübel, doch hinter mir stehen noch andere mies gelaunte Passagiere, die das Flugzeug verlassen wollen. Ich schaue wieder auf die Rutsche, die gänzlich anders ist, als ich mir eine Rutsche zum Verlassen eines Flugzeugs vorstelle. Statt breit und nach oben hin offen, ist hier eine geschlossene Röhre aus dunkelrotem Hartplastik, die vielleicht von einem Spielplatz geklaut wurde, nur um mich zu ärgern. Zu allem Überfluss scheint das Elend zusätzlich noch in eine Kurve zu gehen, wodurch ich das Ende nicht sehen kann. Entfernt aus der Rutsche höre ich einen Schrei und hoffe nun innigst, mich nicht zu übergeben. „Wird's bald?“, vernehme ich von einer unfreundlichen Männerstimme hinter mir, also überwinde ich mein Unbehagen und setze mich in die Öffnung.

Die Fahrt fängt langsam an, doch nach der Kurve muss ich feststellen, dass die Rutsche plötzlich steiler wird und ich enorm an Geschwindigkeit zunehme. Verzweifelt drücke ich mit meinen Gliedern gegen die Wände, um mich abzubremsen, was mir auch halbwegs gelingt und in vermindertem Tempo rutsche ich weiter. Nach der nächsten Kurve kann ich den Ausgang erblicken und stelle voller Erstaunen fest, dass die Rutsche anscheinend ins Nichts führt. Das Erstaunen wandelt sich schnell in Panik um, und mit aller Kraft schaffe ich es gerade so, vor dem Ende anzuhalten. Vorsichtig stecke ich meinen Kopf aus der Röhre und erkenne, dass diese über einer Grube endet. Einer tiefen Grube. Am Boden dieser Grube kann ich einen Haufen Menschen ausmachen, die leblos mit gebrochenen Gliedern und aufgeplatzten Schädeln herumliegen. Seltsam.

Hinter mir vernehme ich ein Geräusch, was wohl das Herannahen einer weiteren Person bedeutet. „Halt! Stopp!“ rufe ich, doch es ist vermutlich schon zu spät. Einem Geistesblitz folgend presse ich mich mit Händen und Füßen gegen die Innenseite der Röhre, sodass ich in der Schwebe bin. Im nächsten Moment kommt schon ein älterer Mann um die Ecke gerutscht. Er blickt mich fragend an, doch bevor er etwas sagen kann, ist er schon unter mir durch geflutscht und stürzt in die Tiefe. Zwei Sekunden später höre ich einen dumpfen Aufschlag und mir dreht sich der Magen um.

Vielleicht kann ich ja aus dem Loch heraus auf die Röhre klettern, doch ich höre schon das nächste Opfer auf seinem Weg nach unten. Diesmal ist es eine Frau, die um die Ecke geflitzt kommt. Sie ist ebenfalls älter und könnte gut die Ehefrau des Mannes sein, der vor ihr dran war. Auch sie blickt mich an, den letzten lebendigen Menschen, den sie jemals ansehen wird, nur um einen Augenblick später unter mir durch und dann in die Grube auf die Überreste ihres womöglichen Ehemannes zuzurasen und mit ihm vereint den Boden rot zu färben.

Wieder rufe ich, so laut ich kann: „Halt! Hört auf zu rutschen, hier ist ein Loch!“. Doch entweder kann man mich nicht hören oder ich werde einfach ignoriert, denn schon kommt die nächste Person um die Ecke. Diesmal ist es ein Kind, ein kleiner Junge. Vielleicht kann ich ihn aufhalten, ohne mit in den Abgrund gerissen zu werden. Doch dafür müsste ich mich aus meiner Schwebe-Position begeben und würde unweigerlich Gefahr laufen, von der nächsten Person, falls diese erwachsen ist, in den Abgrund katapultiert zu werden. Verzweifelt verharre ich also wie zuvor und strecke einen Arm nach unten aus, um ihn so festzuhalten. Der Junge allerdings scheint von meinem Gehabe verängstigt zu sein und presst sich flach an die Rutsche, um nicht in Kontakt mit mir zu kommen. Der Aufprall ist diesmal leiser, als bei den beiden Erwachsenen, jedoch meine ich ein grausames Knacken daraus zu vernehmen. Wenn ich nicht schon vorher aufgebracht war, so verfalle ich nun in absolute blanke Panik. Ich merke, wie meine Muskeln schmerzen und meine Arme und Beine zu zittern anfangen. Schweiß rinnt mir von der Stirn und tropft auf den Boden der Rutsche, wo ich in kürzester Zeit, wenn mir die Kraft, um in der Schwebe zu bleiben, ausgeht, auch liegen werde, um mit in den Tod gerissen zu werden.

Schon kommt die nächste Person um die Ecke gerutscht und starrt mir in die Augen. Diesmal ist es ein Mann, ein Riese von einem Mann, so groß und breit, dass er fast die ganze Röhre ausfüllt. Sein gigantischer runder Körper scheint, wie gemacht zu sein für die Rutsche und einer Kanonenkugel gleich rast er auf mich zu und ich weiß, dass es diesmal kein Entkommen geben kann. Ich blicke diesem Mann in die Augen, die er weit geöffnet hat, diese großen weisen Augen und ich merke, dass dieser Mann nicht nur körperlich, sondern in seinem gesamten Wesen, seinem Geist und seinem Denken ein großer Mensch ist, wie man ihnen nur selten begegnet, und ich fühle mich geehrt, kurz vor meinem Ableben mit einer solchen Person noch Bekanntschaft machen zu dürfen. Den Bruchteil einer Sekunde später mache ich jedenfalls Bekanntschaft mit seinem Körper und werde mit aus der Rutsche gerissen.

Ich befinde mich nun im freien Fall. Ein Stück unter mir sehe ich den Riesen und auf dem Grund der Grube, in fast zwanzig Meter Tiefe, die Menschen, die vor mir hinabgefallen sind und sich nun rasend schnell auf mich zu bewegen. Ich schließe die Augen und versuche einen letzten Gedanken zu fassen, der bedeutsam ist, doch mein imminenter Tod ist das Einzige, was mir in den Sinn kommt. Also öffne ich meine Augen wieder, den Blick nach oben gerichtet auf den kleinen Fleck Himmel über der Grube, der Kilometer weit entfernt scheint, und die Rutsche, deren Ende sich über den Abgrund beugt, und versuche mit meinem Leben abzuschließen.

Ich lande weich. Voller Schock richte ich mich auf. Ich lebe! Ich bin auf dem riesigen Mann gelandet, sein gigantischer weicher Körper hat mich aufgefangen und ich bin scheinbar unversehrt. Hektisch sehe ich mich um, blicke auf all die anderen Menschen, die nicht mein Glück gehabt haben und dann wieder auf den Riesen, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegt, als würde er nur ein Nickerchen machen. Doch ich merke, dass er nicht überlebt hat, und eine tiefe Trauer ergreift von mir Besitz. Über mir sehe ich, wie eine weitere Person aus der Rutsche geschossen kommt und ich hechte schnell an den Rand der Grube, um nicht erschlagen zu werden. Dort erkenne ich eine schmale Treppe, die sich an der Wand der Grube entlang nach oben schlängelt und fange an zu rennen, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin. Oben angekommen laufe ich weiter zum Terminal, wo mich der Direktor des Flughafens freundlich zu einer Tasse Tee einlädt und sich überschwänglich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Der Tee schmeckt gut und ich denke an den Riesen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.