Wir stehen in der riesigen Kaufhalle. Aldi Böllberger Weg. Und ich starre auf Quark, Milch, Joghurt. Ich schüttle meine Locken aus der Stirn. Was wollte ich nochmal?
Beim Anblick der vielen weißen zylindrigen, eckigen Förmchen schwappt etwas über mir zusammen. Eine neblige schwarze Wolke voll von ruchigen Wassertröpfchen. Nein, eine schwere, dunkle Welle. Ich bin so traurig von so auf so.
Ich gucke mich noch mal um. Zwischen den offenen, klinisch weißen Regalen mit den erbärmlichen Neonröhren schlägt mir Kühldunst ins Gesicht und an den Körper, sogar da, wo meine Winterjacke bis zum Hals zugezippt ist. Ich drehe mich weg von den bunten Etiketten. Kühe und Weiden, Himmel und Wolken.
Ich denke
Es ist nichts. Ruhig.
Nur dieser Anblick, so viel Zuviel. Supermärkte ziehen mir öfter mal den Stecker.
Über kleine runde Lautsprecher in der Decke wabert irgendso ein Scheißsong heran und macht alles sowieso schlimmer.
Ich sehe die Nachricht von Mama auf dem schwarzen Bildschirm aufblinken. Heute Vormittag haben wir telefoniert. Es war ein gutes Gespräch. Trotz der Dunkelheit und Kälte fanden wir schöne Themen. Ich beachte die Nachricht nicht. Es ist alles gut.
„Lieber Lennart. Bitte ruf mich nochmal an, wenn du das hörst. Ich muss dir noch was sagen, aber das möchte ich dir am Telefon sagen.“
Sie klingt ganz normal. Normaler Ausdruck. Im Nachhinein denke ich zu normal. Naja, so was denkt man halt danach. Aber in Wirklichkeit klang sie wirklich ganz normal.
Es tutet kurz.
„Hallo?“ Ich höre ihre Stimme noch, als würde sie es immer wieder gerade sagen.
„Lennart. Etwas Schlimmes ist passiert.“
Und in der Millisekunde, bevor sie weiterspricht, bevor sie es ausspricht, bevor sie es für immer wahr macht, weiß ich es schon.
Ein plötzliches Bild schießt mir vor die Pupillen. Blaues Auto, Verkehrsinsel, Bremsspuren.
Natürlich ist es ganz anders passiert. So was ist ja auch bescheuert, natürlich kann ich nicht vorhersehen.
„Bieni ist gestorben.“
Ich weiß. Ich. Weiß.
In der Millisekunde davor.
Ich sage nichts. Ich kann nicht. Mein Hals ist mit kleinen glatten Kieseln gefüllt. Viele. Solche, die du an der Ostsee prima übers Wasser titschen kannst. Du sammelst sie aus dem Sonnensand und behältst sie lange schmiegend in der Hand, weil sie so schön warm sind.
Ich weine.
Mein Herz ist leer und quillt über. Ich bin zerrissen. Ich bin vollkommen ganz und alles drängt von innen gegen meine Hülle und ich kann nicht raus.
„Was. Wie. Warum?“, spreche ich mit einer Stimme, die leise ist zwischen den graueren Kieseln und laut. Die zerbricht und ganz normal klingt.
„Warum? Warum sie? Sie ist… Das ist doch nicht fair. Das ist doch nicht… fair.“
„Ach.“ Ein kleines Wort. Resigniert, abwesend, wissend. Um diese Ungerechtigkeit wissend und sie schon lange akzeptiert habend. Meine Mutter ist Krankenschwester.
Es klingt, als müsste sie ein bisschen lächeln darüber, dass ich es noch nicht weiß. Nicht wusste. Das Lächeln schmeckt bitter auf ihren stillen Lippen.
„Was machst du jetzt?“, fragt sie schmal und stumm.
Dahinter sitze ich und weine fremd und einsam.
„Weiß nicht.“, viel Nase ist in meiner Stimme.
Ich weiß genau, was ich jetzt mache. In der nächsten Millisekunde weiß ich es. In der Millisekunde nach diesem Punkt.
Raus. Ich muss raus. In die Dunkelheit und in die Nacht.
„Hast du jemanden zum Reden?“, wieder das Vergewissern, was neben ihr steht. Ich stelle mir vor, es steht neben ihr, damit sie nicht in sich selbst hinein muss.
„Ja. Die beiden sind da.“, antworte ich und bin froh, dass es etwas zu sagen gibt,
„Gut. Johann ist auch hier.“
„Gut.“
„Mama? – Ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Ich liebe dich Lennart. Ganz ganz doll.“
„Ganz doll“
„Kannst du schlafen nachher“
„Ja ich denke schon du?“
„Ja – Ok wenn was ist, ruf an“
Unsere Sätze haben keine Punkte mehr.
„Du auch“
Ich klopfe bei Anti. Ich stehe in ihrem Zimmer auf dem flauschigen Teppich. Ich starre die Wand hinter ihr an, voller kleiner Lämpchen, die zu einem Perlennetz verschimmern in meinen Augen.
„Alles ok? Lennart.“
Ich weine und weine. Ich schluchze. Ich kann nichts sagen.
Sie steht wortlos auf. Sie stellt sich vor mich.
Anti legt ihre Arme um mich. Sanft. Sie presst mich an sich. Passt unsere Körper aneinander, zusammen.
Ich fühle mich verbunden, und verstanden. Ich atme lang.
„Ich will ein bisschen raus.“ Kannst du mitkommen? Sage ich nicht. Ich komme mit. Spricht sie nicht aus. Sondern:
„Warte.“
Sie löst sich ganz bewusst.
„Vina?“ Sie sitzt auf dem Sofa und schaut mit den Kopfhörern über ihren pinken Haaren eine Serie.
„Kommst du mit raus?“
„Jetzt? Warum?“
„Komm einfach mit.“
Schnell stecken sechs Füße in dicken Schuhen, die noch auf dem Abtreter vor der Kastanienhaustür stehen. An den Weg durch die gelben Straßen erinnere ich mich nicht. Der Gehweg verändert sich und jetzt haben wir Sand unter den Sohlen.
Gefrorenen, vereisten Sand.
Wir schlittern durch die eisklare Nacht. Ich mit noch zittrigeren Knien.
Kann meine Beine kaum fühlen. Kann kaum etwas fühlen von meinem Körper.
Ich sauge die Luft ein, die so kalt ist, dass sie schneidend wird von der Schärfe, mit der sie alle Konturen zeichnet.
Die Bäume ringsum sind still. Der Asphalt auf der Skaterbahn ist still.
Ich laufe in der Mitte, unsere Schultern an Schultern, ich fühle mich sicher.
Sie werden auf mich aufpassen. Immer. Wie ich auf sie. Und in der nächsten Zeit noch mehr als sonst überhaupt.
Gewiss, geborgen schaue ich hoch in die Sterne.
Wie in tiefem, tiefem Wasser, in das viel, viel Farbe langsam bedacht gerührt wurde, stehen sie stark in der Nacht.
Klein und weit weg. Aber voller Licht.
Voller Zeit, die noch kommen wird.