Ich folge der monotonen Bewegung, die die Zeiger meiner Uhr vollführen. Während der Sekundenzeiger kontinuierlich vorwärts tickt, steht der zweite Zeiger eine Weile still, bis er unvermittelt einen kleinen Sprung nach vorne macht. Kaum hat er diesen Schritt gewagt, bleibt er wieder stehen und wartet auf die nächste Gelegenheit. Tick Tack. Der Sekundenzeiger überholt ihn. Tick Tack. Er wagt den nächsten mutigen Sprung.
„Adim“, höre ich meinen Namen. Zwei Beine sind in meinem Blickfeld aufgetaucht. Dunkelgraue, glänzende Anzughosen. Bügelfalten. Ein teurer Stoff. Die Füße stecken in schwarzen Lackschuhen. Edel. Fast ein bisschen zu viel Chic. Sie wirken riesig. Fast ein bisschen zu groß. Doch wenn der Blick den starren Bügelfalten entlang nach oben folgt, weiß man warum.
Vor mir steht ein hochgewachsener Mann. Ein bisschen hager, doch noch immer von beachtlicher Statur. Erste Spuren eines langsamen Alterungsprozesses lassen sich erkennen. Das schwarze Haar wirkt stellenhaft etwas schütter. Sorgenfalten haben sich in seine Stirn gegraben. Mit dem teuren Maßanzug, dem Glanz der polierten Schuhe versucht mein Gegenüber zu verstecken, dass ihn das Alter einholt.
„Adim, sie sind jetzt so weit“, reißt die Stimme meines Anwalts mich erneut aus meinen Gedanken. Ich stehe langsam auf. Meine Glieder schmerzen, weil ich lange in gebückter Haltung auf der schmalen Bank saß. Ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen, habe fast zwei Stunden hier gesessen und dem quälenden Kampf meines Minutenzeigers zugeschaut.
Neben meinem Anwalt betrete ich den Verhandlungsraum. Den Raum, in dem über mein Schicksal entschieden wird, während die Zeit sich immer weiterdreht. Es sind nicht viele Leute anwesend. Der Richter ist alt, hat schon lange aufgegeben, etwas am System ändern zu wollen. Sein Gegenstück ist die junge Staatsanwältin, die noch voller Elan ist. Das Verfahren findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, schließlich war ich noch 17, als ich die Tat begangen haben soll. Ein paar Leute sitzen dennoch auf den Zuschauerplätzen. Ich habe nur einen kurzen Blick auf sie geworfen. Ich kenne sie nicht. Jemand von der Jugendgerichtshilfe vielleicht. Meine Eltern sind nicht da, es überrascht mich nicht. Bei der Hauptverhandlung haben sie der Staatsanwältin jedes Wort geglaubt.
An die Urteilsverkündung erinnere ich mich kaum. Von dem, was der Jugendrichter sagt, bekomme ich nicht viel mit. 18 Monate. Diese Zahl schwebt unheilvoll durch meinen Kopf. 18 Monate Haft. Schuldig einer Vergewaltigung, die ich nicht begangen habe.
Zwei Jahre zuvor. Ine lacht. Ihre lustigen Locken tanzen wild durch die Luft, während wir zu ihrer Wohnung zurücklaufen. Wir waren aus, an diesem lauen Sommerabend. Mit Freunden essen und danach in einer Theatervorstellung. Ine lachen zu sehen, macht mich glücklich. In letzter Zeit ging es ihr nicht besonders gut. Sie mochte nie darüber reden, aber es gab Anzeichen. Ihr Lachen zeigt mir, dass es ihr besser geht. Ein wenig immerhin. Es ist ein echtes Lachen. Nur dann bilden sich die kleinen Grübchen, die sie so zauberhaft strahlen lassen.
Ine ist meine beste Freundin. Letztes Semester haben wir zusammen angefangen zu studieren. Soziale Arbeit. Seitdem sind wir unzertrennlich. Dennoch habe ich manchmal das Gefühl, dass unsere Freundschaft eher oberflächlich zu sein scheint. In die tieferen Schichten haben wir uns nie bewegt. Ich weiß nicht, was sie in letzter Zeit so traurig stimmt. Aber ich frage nicht weiter nach. Es gibt auch vieles, über das ich nicht reden mag. Nicht reden kann vielmehr.
Wir sind stehengeblieben. Vor uns ragt das dreistöckige Wohnhaus aus, in dem Ine in einer gemütlichen Einzimmerwohnung lebt.
„Dann“, sagt sie. So beginnt sie Verabschiedungen.
„Dann“ erwidere ich.
„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast. Oder…“, sie zögert und ich hebe abwartend eine Augenbraue. „Oder willst du noch mit hochkommen?“
Ich schüttele vorsichtig den Kopf. Ich weiß, dass es ihr schlecht geht. Dass sie vielleicht Beistand braucht und jemanden zum Reden, aber ich habe meinen Eltern gesagt, wie lange die Vorstellung gehen wird. Meine Mutter würde sich Sorgen machen, wenn ich nicht rechtzeitig nach Hause komme. Mein Vater würde wütend werden.
„Ein anderes Mal vielleicht“, antworte ich Ine, die daraufhin nickt.
Eine Weile stehen wir da und reden nicht. Dann beugt sie sich unvermittelt vor und ihre Lippen berühren meine. Eine oder zwei Sekunden harren wir so aus, bevor ich meinen Kopf zurückziehe.
„Ine, ich…“, ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Ine, ich bin schwul.“
5 Jahre später. Ein Schuldspruch verändert dein Leben. Dagegen kommst du nicht an. Es spielt keine Rolle, ob du wirklich schuldig bist. Ich war es nicht. Doch geglaubt hat mir lange Zeit niemand.
Vor fünf Jahren konnte ich meine beste Freundin mit einem Mal nicht mehr erreichen. Nachdem ich sie am Abend zuvor nach ihrem Kuss abgewiesen hatte, hatte sie mich am nächsten Tag auf allen sozialen Medien blockiert. Wenn ich anrief, drückte sie mich weg. Wenn ich klingelte, öffnete sie nicht die Tür. Als die Polizei vor meiner Tür stand und mich mitnahm, begriff ich nicht, was geschehen war. Meine Mutter stand in der Tür und weinte. Mein Vater war ungewöhnlich still. Ich sehe das Entsetzen in ihren Gesichtern. Ich war doch ein guter Junge, stellte nie etwas an. Was war geschehen?
Der Junge, dem ich heute meine Geschichte erzähle, ist erst knappe 15.
„Ich kann meinen Eltern nicht sagen, dass ich keine Mädchen mag“, stammelt er zögerlich. „Ich soll mal irgendeine Cousine heiraten.“
„Ich weiß, dass es schwierig sein kann, ein offenes Gespräch mit deinen Eltern zu führen und du musst es auch nicht jetzt tun, wenn du noch nicht dazu bereit bist. Ich werde dich bei allem unterstützen.“
Der Schuldspruch hat mein Leben verändert, aber ich bin froh, dass ich nicht aufgegeben habe zu kämpfen. Im Revisionsverfahren kam schnell ans Tageslicht, dass Ine gelogen hatte. Doch mein beschwerlicher Weg hatte damit erst angefangen. Viele Leute glaubten an das Märchen der Vergewaltigung, dass Ine so lebhaft erzählte. Dass ich homosexuell bin, war für meine Familie nicht leicht zu akzeptieren. Um alles, was in den folgenden Jahren kam, habe ich kämpfen müssen.
Nun helfe ich anderen Jugendlichen dabei, ihren Weg zu finden. Der 15-Jährige, der vor mir sitzt, kommt beinahe jeden Tag in unsere Einrichtung. Er ist mir mehr ans Herz gewachsen als die anderen. Ein ruhiger Junge, der mit seinem Kopf abwechselnd in Büchern steckt oder in den Wolken hängt. Vielleicht erinnert er mich ein wenig an mich selbst.
Zögerlich schiebt er mir das Blatt Papier rüber, auf das er in den letzten paar Minuten seine Gedanken geschrieben hat. Seine Worte machen mich stolz, denn ich erkenne, wie weit er in inzwischen gekommen und wie mutig er geworden ist.
Überlebenskünstler
Wenn sie dir Steine in den Weg legen, kletterst du darüber.
Wenn sie deine Hände fesseln, wehrst du dich mit Worten.
Wenn sie dir den Mund zuhalten, erklärst du deine Ideen mit Gesten.
Alles, was du brauchst, ist dein Verstand und,
Wenn sie dir den rauben, lässt du dein Herz regieren.