„Sie war immer schon lieb.“ „Ja, das merkt man auch heute noch.“ „Darüber bin ich wirklich froh. Wenn man sich die ganzen Teenager ansieht heutzutage. „Ja, ganz schlimm, ich wüsste nicht, wie ich die in den Griff bekommen würde.“ „Tja, zum Glück ist meine Mona anders.“
Anders. Man könnte mich auch als ruhig, ausgeglichen, brav, was auch immer bezeichnen. Von außen. Von innen – ihr habt ja keine Ahnung. Niemand hat das. Aber es will ja auch keiner wissen. Montagmorgen, mein Lieblingstag + Nachricht von meiner Freundin, sie sei krank und ich solle ihr doch bitte die Blätter mitnehmen. Ja klar, gute Besserung, schreibe ich ihr. Ist ja auch nur das sechsunddreißigste Mal innerhalb von zwei Monaten, dass das so läuft. Ich muss ja auch keinen sehr steilen Hügel oder so hochfahren, um zu ihr zu kommen und ihr die Blätter zu geben, damit sie direkt alles hat und schlussendlich nichts damit anfängt. Natürlich nicht. Englisch am Montagmorgen, mein Lieblingsfach. Es fehlt ein Tisch, ich nehme mir den letzten, aber siehe da, ein Junge sitzt eigentlich sowieso in der Reihe, dann könnte ich mir doch gleich einen Tisch vom Nachbarraum holen. Natürlich, warum denn nicht, bringt ja Bewegung, hahaha. Zum Heulen. Komme ich mit dem neuen Tisch an, dann haben sich doch ganze Cliquen so zusammengesetzt, dass in der einen Reihe kein Platz mehr ist, da man ja am besten noch durchkommen sollte. In den anderen weiter hinten bin ich nicht erwünscht und sie bei mir eigentlich auch nicht. Partnerarbeiten machen sich doch auch super alleine, oder? Cool, jetzt habe ich den professionellsten Partner überhaupt – meinen Englischlehrer, der mir jede fünfte Vokabel stirnrunzelnd verraten kann. Was für ein schöner Wochenstart.
Die erste Pause. An unserem Mensatisch wird die Tafel Schokolade geteilt – für jeden ein Stückchen. Außer für die, die am Ende sitzt. Also für mich. O nein, das tut ihnen jetzt aber leid, dass es nicht ganz aufgegangen ist, das nächste Mal kriege ich dann zwei Stücke. Ach, alles gut, dann spare ich mir die Kalorien, hahaha. Als ob die das nächste Mal an meinen Bonus denken oder ich überhaupt mal ein Stückchen abkriege, sollte ich mal mittendrin sitzen. Naja, neues Fach, neues Glück. Biologie ist meine absolute Stärke. Im Nichts sagen versteht sich. Wir machen Experimente. Schweinsleber, die wir mit Handschuhen anfassen müssen, steckt jetzt noch in dem Reagenzglas und muss ausgespült werden. Jeder ekelt sich zu Tode, könnte ich nicht so lieb sein und das übernehmen? Natürlich kann ich das, mit Vergnügen und einem Ekel, der tausendmal größer ist als bei den anderen, aber macht nichts, ich bin ja tough.
Zweite Pause. Schokotisch riecht zwar super, schmeckt aber nicht. Mein Vierertisch in der Ecke, an dem nur ich alleine sitze, ist doch ganz entspannt. Dann schaue ich einfach den anderen zu, die Spaß haben und hoffe, dass niemand mich alleine da sitzen sieht, da meine sogenannte Freundin heute zum sechsunddreißigsten Mal nicht da ist. Aber selbst wenn sie mich sehen – für mich ist doch alles easy oder? Natürlich! Doch wie sieht man am lässigsten aus? Mit Handy und Kopfhörern. Habe ich Kopfhörer dabei? Natürlich nicht. Hat mein Handy genügend Akku? Warum sollte es denn? Ich versuche eine bequeme Position zu finden, in der ich es eine Weile aushalte. Einfach im Stuhl lümmeln, meine Jacke als Kopfkissen auf dem Tisch nehmen, aufrecht sitzen, Beine überkreuzt oder auch nicht, aber ich finde keine ideale Haltung. Vielleicht, weil ich mich nicht ideal fühle? Also, nicht mal ansatzweise meine ich? Vielleicht. Aber bringt ja nichts. Noch sechzehn Minuten. Ich hasse es, wenn die Zeit nicht vorbeigeht.
“Hey“ Ich blinzele. „Hi“ „Darf ich mich zu dir setzen?“ Ich schaue herum. Ist ja nicht so, dass die Mensa knalle voll ist, aber gut. „Klar.“ Er isst einen Apfel. Habe ich an mein Essen gedacht? Nein. „Willst du was?“ „Nein, danke.“ „Doch, du willst.“ „Nein, wirklich nicht, danke.“ „Komm schon, ich sehe es doch, du willst was essen.“ Mein Bauch brummt, er grinst und ich nehme einen Apfelschnitz. „Danke.“ „Gerne.“ Wir schweigen uns an und ich will plötzlich, dass er wieder geht. Nicht wegen ihm an sich, ich hasse es einfach, das Gefühl zu haben nicht zu wissen, worüber man reden könnte. „Ein Scheißtag oder?“, fragt er. „Wieso?“ „Naja, lief ja heute nicht so.“ „Was meinst du?“ „Du kannst deine Maske abnehmen.“ Ich fasse an mein Ohr, aber ich habe doch gar keine FFP2-Maske an. Der Junge lacht. „Ach so, sorry, ich meinte deine Fassade.“ Geht das vielleicht noch lauter? „Was?“ „Die anderen sehen es vielleicht nicht, aber ich schon.“ Er beugt sich etwas näher zu mir herüber. „Du darfst auch mal Wut zeigen. Du musst dir nicht alles gefallen lassen.“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Hast du sonst keine Probleme in deinem Leben und denkst, du musst mich beraten?“ „Doch, jeder Mensch hat Probleme. Genau das, was gerade seine Grenzen überschreitet.“ „Ach so, und was denkst du überschreitet meine Grenze gerade so?“ „Weiß ich nicht, das ist ja das Problem.“
Es gongt. „Denk mal darüber nach.“, sagt der Junge zwinkernd und läuft davon. Wer bitte ist das überhaupt? Egal, wer auch immer es ist, gehoben hat er meine Laune ja nicht gerade. Habe ich ihn schließlich um Rat gefragt? Nein! Er denkt wohl er sei so eine Art Erzieher in der zwölften Klasse und müsste eine Schülerin ermutigen zu sagen, was Sache ist. Versagt hat er. Wahrscheinlich ist es deshalb nicht sein Beruf geworden. Auch wenn ich überhaupt keine Lust habe, mache ich mich auf den Weg zu… Sport. Och ne, ausgerechnet jetzt bin ich so spät dran. Kaum umgezogen, werde ich in eine Basketballmannschaft gezwungen. Mit sehr guten Spielerinnen drin. Ein Hoch auf den Teamgeist, oder besser auf den Einzelgeist. Natürlich bekomme ich den Ball nie ab, weil mir niemand einen gescheiten Pass, geschweige denn einen Korbwurf zutraut. Ich sehe, wie die Lehrerin sich Notizen macht, der Junge von vorhin danebensteht und ich kriege einen zu viel. Ich gehe auf meine Mannschaft zu. „Hey, ähm, nicht böse gemeint, aber ihr spielt mir den Ball nie zu. Gerade habe ich gesehen, dass unsere Lehrerin sich Notizen macht und ich will nicht so dastehen, als ob ich mich nicht engagiere.“ „Dann spiel besser.“ „Du weißt doch gar nicht, wie ich spiele.“ „Ja, lasst sie mal ran, ich muss auch von ihr Noten machen“, mischt sich die Lehrerin ein. Zum ersten Mal zu meinem Vorteil. Ein Mädchen verdreht die Augen. „Wehe, du versagst!“ Sie passt mir den Ball zu und vor lauter Überraschung kann ich ihn nur gerade so fangen. Ihre hochgezogenen Augenbrauen entgehen mir nicht. Das Spiel beginnt und mir wird der Ball tatsächlich zugepasst. Aber nutze ich die Chance? Natürlich nicht, ich zittere so sehr, dass ich gefühlt kaum laufen kann. Das Einzige, was ich höre, sind Vorwürfe und Kampfschreie, und ich will einfach nur kapitulieren. Sie hätten mir den Ball nie zupassen dürfen. Nie hätte ich das verlangen dürfen. Innerlich ohrfeige ich mich und merke gar nicht, wie ich zur Aussetzbank laufe, bis der Junge mich anspricht. „Denk doch einfach mal an die ganze Scheiße! Werde wütend! Wenn du so weitermachst, bestätigst du sie nur darin, dass sie weiter so mit dir umgehen können und sogar sollen. Reiß dich zusammen und zeig verdammt nochmal, was du kannst! Lass dich nicht von deinen Zweifeln bestimmen, kämpfe!“ Ohne ein Wort gehe ich wieder auf den Platz. Ich scheine gar nicht zu realisieren, was ich da eigentlich mache. Ich hole mir den Ball, schaffe mir Platz, schüttele meine Gegner, sogar im eigenen Team, ab und renne auf den Korb zu. Ehe ich mich versehe, landet der Ball darin. Wieder höre ich Schreie, diesmal sind es Jubelschreie. Von mir, was ich ziemlich spät realisiere. Die anderen stehen einfach nur mit großen Augen und riesigen offenen Mündern da. „Was war das denn?“, fragte das eine Mädchen. „Ein Korb natürlich.“
Meine Stimme klingt zum ersten Mal seit langem lässig und stolz. Und ich steuere Richtung Ausgang Sporthalle zu. Wann schwänze ich zur Feier des Tages, wenn nicht heute? „Haben die nicht gesagt, sie redet nie was und sei schlecht?“ „Ja, dachte ich auch.“ Mit einem Schmunzeln drehe ich mich um und mein Gesicht wird wieder ernst. „Dann sagt ihnen, ich habe mich geändert.“ Und das letzte was ich sehe, ist ein zwinkernder Junge und ich schenke ihm ein kleines, unauffälliges Lächeln.