Benno

Wettbewerbsbeitrag von Jasmin Darr, 24 Jahre

„Raus mit dir! Lange genug habe ich das mitgemacht. Ab jetzt kannst du sehen, wie du alleine klarkommst“, schrie eine Frau mit violett gefärbten Haaren, einem langen Stiftrock und einer weißen Rüschenbluse Benno hinterher, der die Treppen des Hauses hinunter torkelte. Die Sonne schien ihm grell ins Gesicht. Als er sich umdrehte, um noch einmal zurückzusehen, klackte die Tür ins Schloss. Kein Winken, keine Tränen. „Meine Kleine“, dachte er, bevor er darüber nachdachte, wie es nun weiterging. Er griff in seine Hosentaschen. Die eine Innentasche war leer, ein paar Tabakkrümel fielen heraus. In der anderen fand er zumindest dreißig Mark. Die würden reichen, um zwei Nächte in einem Hotel unterzukommen. Er wollte nicht ins Hotel, sondern zu seiner achtjährigen, kleinen Tochter und ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Für sie, dachte er sich, würde er schließlich immer da sein. Langsam schlenderte er in Richtung der Hauptstraße des Dorfes, wo sich ein paar Bistros und Kneipen befanden. „Na, schon wieder rausgeworfen?“, fragte eine Nachbarsstimme aus dem ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Benno schüttelte den Kopf, antwortete nichts darauf und lief mit trauriger Miene weiter die Dorfstraße herunter. „Ob es ihr dieses Mal wirklich genug ist?“, fragte er sich leise. „Ein paar Bier zu viel, na klar, gut riechen tut es nicht und dem Ersparten kommt’s auch nicht zugute, aber ich tu doch niemandem was Böses.“, murmelte er vor sich hin. „Papa, kommst du nachher nach Hause?“, fragte ein kleines Mädchen, dass gerade einen Puppenwagen vor sich her schob im Vorbeispazieren. „Doreen!“, rief er, lief auf sie zu und hob sie hoch. Er hielt sie fest im Arm, noch fester als sonst. „Papa, ich kriege ja keine Luft. Was hast du denn?“, fragte seine Tochter ihn schon ahnend, dass ihre Eltern sich wieder gestritten hatten. Sie wusste, dass es meistens ihre Mama war, die böse auf Papa wurde, wenn er mal wieder betrunken nach Hause kam. Während ihre Mutter die Schlafzimmertür von innen verriegelte und entweder schwieg oder vor sich hin fluchte, schmierte sie ihm noch eine Stulle mit Fett und Zwiebeln und brachte sie ihm zur Couch, auf der er dann immer schlief. „Mein Kind, ich komme sicher bald wieder nach Hause, wenn sich deine Mutter beruhigt hat. Ich habe dich über alles lieb.“ Sie nickte und gab ihm noch einen Kuss, bevor er sie wieder absetzte. Dann lief sie mit dem Kinderwagen davon, in dem keine Puppe lag, sondern zwei Karnickel nebeneinandersaßen und die Ohren spitzten. Er schaute ihr noch eine Weile nach, bevor er sich wieder umdrehte und weiterlief. Er kam nicht so richtig dahinter, was für Inge so schlimm daran war, dass er trank. Für ihn war es gut so, wie es war. Zwar hatte seine Familie nicht besonders viel zu essen, aber das Nötigste brachte er stets mit nach Hause. Außerdem kümmerte er sich liebevoll um Doreens ältere Schwester Carina. Benno war mittlerweile eine halbe Stunde spaziert und befand sich am Rand des Dorfes. Über die Straße hinweg blickte er auf ein weitläufiges Maisfeld. Bald würde die Sonne dahinter verschwinden. Neben ihm befand sich ein Lebensmittelmarkt, der noch für wenige Minuten geöffnet hatte. „Was machst denn du hier?“, unterbrach eine vertraute Stimme seine Gedanken. Carina. Sie musste ihn aber auch immer und überall ertappen. „Hallo Kind, Mutter hat mich wieder vor die Tür gesetzt“, erzählte Benno. „Hm, mich auch schon ein paar Male. Da nimmt man sich eine kurze Auszeit und kommt dann wieder heim“, entgegnete sie unberührt. „Ich wollte gerade noch etwas fürs Abendessen einkaufen und dann nach Hause spazieren. Gehen wir dann zusammen heim? Und hast du Geld für den Einkauf für mich?“ Benno nickte und drückte ihr seine dreißig Mark in die Hand. „Ist gut, ich warte hier draußen auf dich“, sagte er noch. Er wollte ohnehin viel lieber nach Hause, als sich irgendwo volllaufen zu lassen. Nach wenigen Minuten kam Carina wieder aus dem Geschäft und hüpfte im Hopser-Lauf auf ihn zu. In den Händen trug sie in Papier eingewickelte Kartoffeln und eine Kanne Milch, aus der ein paar Tropfen überschwappten. „So athletisch wärst du auch noch gerne, oder? Habe ich im Sportunterricht gelernt“, erzählte Carina stolz. „Was, du warst in der Schule?“, fragte Benno sie neckisch zurück. So einfach konnte man ihn nicht auf den Arm nehmen. Carina verzog die Augenbrauen zu einem pubertären Blick und drückte ihm die Milchkanne in die Hand. Vor dem Häuschen angekommen, bemerkte Benno, dass der neugierige Nachbar schon wieder seinen Kopf zum Fenster hinaushielt.
„Also, das ist der Plan: Du gehst rein, drückst Mutter die Kanne in die Hand und läufst weiter in die Waschküche, um deine Fahne wegzuwaschen.“ Benno musste lachen und war froh darüber, wie einfältig Carina war. Er hatte selbst keinen besseren, also öffnete er die Tür und folgte ihrem Plan. „Du bist zu spät, Carina!“, rief Inge und erstarrte für einen Moment, als Benno ihr mit einem schiefen Lächeln das Kännchen in die Hand drückte. „Mama, hör mal zu. Ihr müsst doch einen Weg finden, euch zu vertragen“, sagte Carina während Benno weiter in die Waschküche lief. Inge bekam kein Wort heraus. „Papa ist wieder da!“, rief Doreen freudestrahlend und rannte im Kreis um den Esstisch herum, bevor sie ihrer Schwester um den Hals fiel. Carina hatte es tatsächlich geschafft. Zwar war ihre Mutter verstummt, aber dafür war Doreen glücklich und ihr Stiefvater mittlerweile ausgenüchtert. Nach Kernseife und Rasierwasser duftend kam Benno wieder und lehnte sich schüchtern gegen den Türrahmen. Seine braune Haarmähne hatte er zur Seite frisiert. Während Carina begann, die Kartoffeln zu schälen, deckte Doreen den Tisch. Nun sah Inge so aus, als wäre sie kurz davor, die Nerven zu verlieren. Es schien, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie entweder hysterisch zu weinen begann oder ihn wieder nach Draußen begleitete. Diesmal fand Benno, sah sie wütend genug aus, um ihm hinterher noch einen Arschtritt zu verpassen. Also tat Benno, was er in einem der Liebesfilme gesehen hat, die Inge sich hin und wieder ansah. Er machte einen Schritt auf sie zu, legte seine Arme um ihre schmalen Schultern, drückte ihren Kopf an seine Brust, schaute ihr hingebungsvoll in die Augen und küsste sie. „Das war aber nicht Teil des Plans“, sagte Carina, die gerade die Kartoffeln aufsetzte und die beiden aus wenigen Metern Entfernung beobachtete. „Guck mal, wir sind im Irrenhaus gelandet!“, rief sie ihre Schwester herbei. Als Doreen das sah, riss sie ihre rehbraunen Kulleraugen weit auf und begann zu kichern. An diesem Abend saßen sie länger als gewöhnlich beieinander und erzählten sich davon, wie es in der Schule und auf Arbeit zuging. „Sagt mal, seit wann füllen sie eigentlich so wenig Milch in die Kännchen?“, wollte Inge wissen und schenkte sich ein Glas nach. Da schaute Benno zu Carina und entschied sich, ihr die Antwort zu überlassen. Sie würde sich sicher etwas geschickteres einfallen lassen, als er.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Jasmin Darr, 24 Jahre