Ich habe versagt. Seit zwei Jahren lebe ich, wie kein Mensch jemals leben sollte; zurückgezogen, einsam, nur mit mir selbst und dem Alkohol. Während wir zu Beginn noch Seite an Seite gegen Unsicherheiten und Ängste gekämpft und ich in ihm einen guten Freund gesehen habe, schaut er mittlerweile fast schon selbstgefällig auf meinen sozialen und geistigen Zerfall. Die jugendliche Euphorie für das Neue hat er mir längst genommen und durch einen immer gleichen Tagesablauf ersetzt. Und jetzt sitze ich hier. Alleine in einer fremden Stadt, in einer viel zu teuren Wohnung, die ich nur noch verlasse, um einzukaufen oder in die Kneipe zu gehen.
Entsprechend wenig Hoffnung habe ich mir gemacht, als mir Adam, ein alter Freund vergangener Tage, geschrieben hat, wir müssten uns mal wieder sehen. Zweimal schon haben wir einen Termin ausgemacht, und zweimal schon haben wir ihn wieder verschoben. Heute läuft der dritte Versuch an und ich warte nur auf die Nachricht, dass er es doch nicht schafft. Treffen wollen wir uns in der Hohwisch-Stube. Ein uriges, etwas aus der Zeit gefallenes Lokal im Osten Bremens, das mich schon immer in seinen Bann gezogen hat. Insbesondere, da die Gäste mindestens so heruntergekommen und kaputt sind, wie der Laden selbst und ich anfangs wirklich überzeugt war, durch Gespräche mit ihnen herausfinden zu können, wie ich nicht wie sie ende. Mittlerweile jedoch muss ich ernüchtert feststellen, dass ich mit meinen 23 Jahren nur noch durch mein junges Aussehen hier auffalle und ansonsten perfekt ins Bild der Tragischen und Komischen passe.
Da Adam und ich uns um 20:00 Uhr treffen wollen, ich aber bereits zwei Stunden vorher nichts mehr zu tun habe, entscheide ich mich, schon etwas vorher zur Kneipe zu gehen und ein Bier zu bestellen. Gewohnheitsgemäß bringt mir Heike, die Kellnerin, auch einen Sambuca-Baileys und ich warte gespannt darauf, dass irgendetwas passiert. Mechanisch blicke ich auf mein Handy: noch immer keine Absage von Adam. Die letzte Nachricht hat er vor ca. einer Woche geschrieben, seitdem kam nichts mehr. Nicht ungewöhnlich, denke ich mir, bin mir aber trotzdem unsicher, ob das nicht als Absage zu werten ist. Um nicht verzweifelt zu wirken, habe ich seitdem aber auch nicht mehr geschrieben, entweder kommt er heute oder eben nicht.
Während ich einen Schluck von meinem Haake-Beck nehme, schaue ich mich um. Am Tisch neben mir starrt ein alter Mann in abgeranzten Klamotten abwesend durchs Fenster, zwei Tische weiter macht sich ein derber Typ, ich schätze Mitte 40, über eine Schweinshaxe her und am Ende des Ladens besetzt ein Ehepaar beide Spielautomaten und streitet sich über die Höhe seiner Einsätze. Ansonsten ist der Laden leer. Da ich eine unangenehme Verbundenheit mit den wenigen Anwesenden spüre, widme ich mich schnell wieder mir selbst und leere mehr oder weniger freiwillig mein Bier. Ohne Umwege bestelle ich direkt das nächste, bevor ich kurz auf die Toilette verschwinde. Dort angekommen starrt mir ein hässlicher Typ mit dunklen Furchen unter den Augen ins Gesicht. Ich wende mich von ihm ab, er tut es mir gleich und ich gehe mich erleichtern. Als ich fertig bin, schenken wir uns keine Beachtung mehr und gehen wortlos aneinander vorbei. Wieder in der Kneipe sehe ich, dass Adam endlich angekommen ist und mit Heike redet.
Überfordert und etwas unbeholfen begrüßen wir uns mit einer Mischung aus Handschlag und Umarmung und setzen uns an meinen Tisch. Da wir beide nicht wissen, wie wir das Gespräch anfangen sollen und mir die aufkommende Stille immer unangenehmer wird, suche ich tief in meinen Erinnerungen nach Möglichkeiten, Konversation zu führen.
„Und? Was treibst du so?“, frage ich und schäme mich schon fast dafür, dass ich nicht wenigstens etwas Persönliches einbringe.
„Nicht viel. Ich bin immer noch in Hamburg am Studieren, aber ich überlege, ob ich nicht einfach abbreche. Irgendwie juckt mich das alles nicht mehr wirklich. Bei dir?“
„Ähnlich. Ich hab jetzt glaub' ich seit zwei Semestern nichts mehr für die Uni gemacht. Würde es kein Kindergeld und Semesterticket geben, wäre ich längst raus“.
Wow. Seit zwei Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen und das ist alles, was mir einfällt. Zwei Freunde in der Blüte ihres Lebens, die sich nichts erzählen, weil sie nichts zu erzählen haben. Von allen traurigen Gestalten in der Kneipe sind wir bestimmt die traurigsten.
„Bist du noch mit Alina zusammen?“ frage ich in die sich wieder ausbreitende Stille hinein. Ich bin berechenbar geworden.
„Nee, ich glaub', seit wir uns das letzte Mal getroffen haben schon nicht mehr.“
„Ernsthaft? Wie kommt's?“
„Ach, ich glaub' wir haben uns einfach auseinander gelebt, wie das so ist. Das gehört wahrscheinlich einfach dazu, wenn man lange zusammen ist und ich dachte mir irgendwann, es ist besser so. Na ja, und halt, weil sie die halbe Uni gefickt hat.“
Er blickt mich herausfordernd an und ich kann nicht anders als zu lachen. Sein Timing für Pointen hat er nicht verloren.
„Was gibt’s da zu lachen?“ Sein Blick wird wieder etwas ernster.
„Sorry, tut mir leid. Wie hast du es herausgefunden?“
„Keine Ahnung, also die Gerüchte kanntest du ja und irgendwann hab ich sie halt drauf angesprochen. Zuerst hat sie es natürlich abgestritten. Sie würde so was niemals machen und wie könnte ich so was überhaupt denken. Aber nach ihrer Reaktion wurde mir schnell klar, dass es stimmte und ich hab sie noch am selben Abend rausgeschmissen.“
„Scheiße, das klingt hart.“
„Es geht. So was öffnet dir natürlich die Augen, aber im Endeffekt bin ich auch froh, dass es vorbei ist. Das Einzige, was in den Wochen danach wirklich hart war, war mein Schwanz.“
Wieder starrt er mich erwartungsvoll an, und wieder kann ich nicht anders als zu lachen, doch dieses Mal steigt auch er mit ein. Da sein Lachen von der ansteckenden Art ist, bin ich nicht in der Lage aufzuhören und auch er scheint sich kaum halten zu können. Jede Kleinigkeit ist auf einmal witzig und bringt uns zum Kichern wie zwei Schulmädchen. Nicht mal fünf Minuten und das Eis ist gebrochen.
Die nächsten zwei Stunden verbringen wir damit, ein Bier nach dem anderen zu bestellen, immer begleitet von zwei Sambuca-Baileys, und uns über alte Bekanntschaften und Ereignisse auszutauschen. Plötzlich muss ich wieder auf die Toilette. Zu meinem Erstaunen stelle ich fest, dass der hässliche Typ von vorhin nicht mehr da ist. Dafür hat jemand seinen Platz eingenommen, der mir bekannt vorkommt, den ich aber nicht einordnen kann. Da ich mittlerweile bereits stark angetrunken bin, ist mir das aber auch egal und ich stelle mich ans Pissoir. Vom ganzen Lachen tut mir die Kehle weh, das letzte Mal war wohl schon eine Weile her.
Als ich zurück in die Kneipe trete, hoffe ich, dass ich nicht zu lange weg war und sich in der Zwischenzeit etwas geändert hat. Doch als ich Adam an unserem Tisch sitzen sehe, weiß ich, dass alles noch genauso ist, wie vor fünf Minuten. Auf dem Weg zu ihm laufe ich an Heike vorbei.
„Darf's noch was sein?“
„Dasselbe wie immer. Zweimal.“