Die Steine auf meinem Herzen

Wettbewerbsbeitrag von Tonja, 17 Jahre

Als ich in der Öffentlichkeit große Panik verspürte und einfache Dinge wie Einkaufen oder zur Schule zu gehen schon zu meinen größten Herausforderungen wurden, wusste ich, dass ich Hilfe brauche.
Also tat ich, was jeder normale unnormale Mensch tat, und fing mit Therapie an.

„Sie leiden unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung“, meinte eine Psychologin kurz bevor ich die Therapie abbrach. Meine Mutter wusste mir nicht zu helfen und hoffte einfach, dass alles wieder besser werden würde.

Aber nichts wurde besser. Die Nacht, die einen riesigen Einschnitt in mein Leben darstellte, hatte mich grundlegend zu einem anderen Menschen gemacht. Alles fühlte sich trauriger und grauer an. Ich war nichtmehr die lebensfrohe Person, die ich mal gewesen war und sein wollte. Die Erinnerungen zogen mich wie ein Anker in die endlose Tiefe und ich leistete keinen Widerstand.

Also existierte ich einfach weiter, ohne Freude, ohne Licht, ohne Glück, aber Leben konnte man das nicht nennen. „Freunde“ gab es in meinem Leben nicht, die Menschen, mit denen ich vor der Nacht meine Freizeit verbrachte, standen nicht hinter mir, redeten aber gleichzeitig hinter meinem Rücken, also verbannte ich sie aus meinem kleinen Kreis und machte einfach alleine weiter.

Es schien alles aussichtslos. Die Depression verschlang mich und jegliche Hoffnung auf Glück hatte mich verlassen, sowie alles andere Lebenswerte, das ich einst gekannt hatte.

Dann aber, eines Abends, völlig unerwartet, bekam ich den Anruf. „Hey, ich weiß, wir haben schon seit Ewigkeiten nichtmehr miteinander gesprochen, aber ich geh heute Nacht in die Stadt und ich habe mich gefragt, ob du mitkommen willst.“ „Naja ich weiß nicht, ich muss noch aufräumen und meine Hausaufgaben muss auch noch machen.“- was eine eindeutige Lüge war. „Ach komm, es ist Freitag. Du wirst auch morgen noch Zeit haben deiner ToDo-Liste nachzugehen.“ Ich hatte keine Motivation, mich mit meiner Kindheitsfreundin zu treffen, aber mir fielen keine anderen Ausreden ein und außer im Bett zu liegen hatte ich sowieso nichts Besonderes vor. Also erklärte ich mich zu einem Treffen bereit. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, mich mit Menschen getroffen zu haben. Schon auf dem Weg zur Bushaltestelle verspürte ich Angst und Panik, aber es war auch aufregend. Hatte meine alte Freundin verändert? Konnte ich immer noch so mit ihr reden wie früher? Sonst wusste ich jeden Tag, dass ich nach der Schule nach Hause kommen, ins Bett gehen und dann nichts mehr tun würde, jetzt aber war alles unberechenbar. Was passieren würde, das wusste nur die Nacht selbst.

Die Fahrt bis zur Innenstadt ging fast eine ganze Stunde und ich hatte nicht die leiseste Ahnung was es war, vielleicht ein bisschen Vorfreude meine alte Freundin aus dem Reitercamp vor sechs Jahren wieder zu sehen, oder die Dunkelheit, welche die Nacht ankündigte, aber ich wurde immer entspannter und die Angst verlies schleichend meinen Körper.

Der Bus hielt und kaum war ich ausgestiegen, fühlte ich die Arme von Helena um meine Schultern geklammert. „Wow, du bist so gewachsen, jetzt so viel größer als ich.“ Ja Helena, ich hatte dich auch größer in Erinnerung. „Komm, lass uns etwas essen, ich sterbe vor Hunger.“ Sie lief voran und ich hinterher. Ich konnte noch nicht ganz begreifen, dass ich sie nun vor mir stand und wir redeten. Sie hatte Recht, ich war in den vergangenen sechs Jahren viel gewachsen und sie nicht, aber außer der Größe war sie ein ganz neuer Mensch. Ihre natürlichen, hellblonden Haare waren kastanienbraun gefärbt. Damals war sie in einer Phase gewesen, in der sie nur pinke Klamotten trug, jetzt trug sie schwarze Stiefel, einen schwarzen oversized Pullover und dunkelblaue Jeans und heute schmückte ein dezenter Eyeliner ihre mandelförmigen Augen. Nicht nur ihr Äußeres hatte sie geändert, sondern auch ihre Haltung, die Gangart und der Gesichtsausdruck. Sie erschien viel selbstbewusster und als wüsste sie genau, wer sie war.

Sie führte mich zu einem asiatischen Nudelrestaurant und bestellte für uns beide. Wir setzten uns und sie schaute mich einfach nur an, mit einem Blick, der nicht zu ihrem Äußeren passte. Traurig, den Tränen nahe, als hätte sie tonnenschwere Steine auf dem Herzen. „Ist alles in Ordnung?“, wollte ich wissen.
„Ja, es ist nur… es ist nur so, dass ich jemanden zum Reden brauche, aber ich niemanden habe, der mir gerade zuhören kann.“ Ihr lief eine einzelne Träne die Wange herunter.
„Und dann musste ich an dich denken, weil wir uns von früher kennen. Du weißt viel mehr von mir, als alle meine anderen Freunde und ich weiß einfach, dass ich dir vertrauen kann.“
Ich wusste nicht, was jetzt kommen sollte, also antwortete ich einfach nur: „Erzähl einfach, deine Geheimnisse sind bei mir sicher“, und lächelte sie aufmunternd an. Ihr trauriger Ausdruck wurde nur noch trauriger und sie fing an zu erzählen: „Mein Vater hat meine Mutter betrogen und zuhause gibt es nur noch Streit und Geschreie. Zwischen den beiden läuft es schon seit Langem nicht so gut, wie es früher lief und jetzt bricht ihre Beziehung zusammen. Meine Mutter will die Scheidung und mein Vater droht ihr aber, ihr mich und meinen kleinen Bruder wegzunehmen. Ich will aber nicht nur bei meinem Vater leben, auch nicht nur bei meiner Mutter. Ich will einfach nur, dass alles wieder so wird wie früher.“ Ich habe so etwas noch nie erlebt, da ich meine Eltern nie zusammen erlebt habe und meinen Vater fast gar nicht kenne. „Ich habe keine Motivation mehr, etwas für die Schule zu tun, oder mich mit meinen Freunden zu treffen.“ Da kann ich mich in ihrer Situation schon viel besser wiedererkennen. „Weil ich ihnen nichts von zuhause erzähle, verstehen sie nicht, warum ich einfach nur meine Ruhe will, ganz im Gegenteil, sie sind eher sauer auf mich, dass ich mich nicht mehr mit ihnen treffen will.“ Helena will weiterreden, aber bringt nur noch Schluchzen heraus.

„Oh Helena, es tut mir so leid.“ Ich werde auch emotional. Ist dies der richtige Zeitpunkt, ihr auch von meinen Problemen zu erzählen? „Kann ich dir auch was erzählen?“ Sie nickt und unterbricht ihr Schluchzen, um mir aufmerksam zuzuhören.

„Vor zwei Monaten...“, Jetzt bin auch ich den Tränen nahe, „Vor zwei Monaten war ich mit ein paar Freunden auf einer Party und naja, ich habe den dummen Fehler gemacht etwas zu trinken und irgendein Idiot hat das anscheinend bemerkt und dann die Situation ausgenutzt.“ Jetzt bin ich diejenige, die vor Schluchzen nicht mehr weiterreden kann. Sie schaute mich verständnisvoll an, erwidert aber nichts.
Obwohl ich weinte, fühlte ich mich dennoch leichter, als hätte ich den schweren Anker einfach fallen gelassen. Die Bedienung kam mit unseren Nudeln, die wir still aßen, weil Essen sich gerade so gut anfühlte.
Für den Rest der Nacht blieben wir einfach in dem Restaurant sitzen und reden miteinander über unsere Probleme und was uns sonst noch alles in den Sinn kommt. Wir weinen und lachen zusammen, etwas, dass mir seit Monaten zum ersten Mal passiert.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Tonja, 17 Jahre