Ich stand in der Hauptstadt Paris, den Blick auf die Menschenmenge gerichtet, suchend. Eine dichte Menschenmasse drängte sich an mir vorbei. Dort herrschte Bewegung, jeder wollte irgendwo hin, um etwas zu sehen, etwas zu erleben, um keinen Moment zu verschwenden. Kinder liefen lachend umher, die Eltern ihre Blicke in eine Karte der örtlichen Sehenswürdigkeiten vertieft. Andere sahen sich gebannt die Architektur an oder zielten die Läden der Innenstadt an. Und inmitten dieses Treibens stand ich, den Blick fest auf die Straße und deren Passanten gerichtet, Ausschau haltend. Ich sah auf meine Uhr, es war bereits halb sechs. Ich stand hier schon seit geschlagenen zwei Stunden, und es war noch immer niemand aufgetaucht. Nach der ersten Stunde hatte ich begonnen, nervös die Straße auf und ab zu laufen, und als die zweite Stunde verstrichen war, hatte ich mich auf eine Parkbank gesetzt und dort gewartet, bis ich es nicht mehr aushalten konnte und endete letztlich wieder mitten auf dem Weg und hielt weiter Ausschau. So langsam begann mich die Panik zu packen.
Was, wenn sie mich vergessen haben? Bei dem Gedanken schnürte sich meine Kehle zu, und ich begann noch intensiver, die Menge nach bekannten Gesichtern abzusuchen. Nichts. Wie lange sollte ich hier noch stehen und warten? Eine Stunde, zwei, drei, fünf!? Das konnte ich nicht. Ich konnte nicht noch eine einzige Minute hier ertragen. Und so griff ich mir meinen Rucksack, den ich hinter mir an einen Baum gelehnt hatte und begann in Richtung Innenstadt zu laufen. Es würde bald dunkel werden und ich hatte keine Lust, bei Nacht noch immer am selben Ort zu stehen. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich die nächstbeste Person angesprochen, wie ich zu meinem Hotel kommen könne und wäre um drei Uhr zurück am Hotel gewesen. Doch da ich kein Französisch spreche und mein Handy bereits jetzt keinen Akku mehr hatte, stellte sich das als Herausforderung dar.
Ich kam an vielen Läden vorbei, ein Straßenmusiker spielte laut ein französisches Lied auf seinem Klavier, wo sich ein kleiner Kreis um ihn versammelt hatte. Ein Ladenbesitzer pries lautstark sein frisches Obst und Gemüse an, und an einer Eisdiele standen die Menschen Schlange, und die Tauben tümmelten sich zwischen den Stühlen, dort wo Stücke von Eiswaffeln auf den Boden gefallen waren. Es war ein besonders warmer Tag gewesen, und so war die allmähliche Abkühlung, die gegen Abend eintrat eine willkommene Abwechslung. Ich bemerkte anhand der Schatten der Häuser, die sich auf den gegenüberliegenden Fassaden abzeichneten, dass die Sonne so langsam unterging. Die Straßen waren bereits jetzt etwas leerer geworden und ein goldenes Licht durchschien die Innenstadt. Ich wandelte nun schon seit einiger Zeit umher, nicht wissend, ob ich überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
Um nach Paris zu kommen, hatte ich mich einer Reisegruppe angeschlossen, deren Anzeige ich in der Zeitung entdeckt hatte. Sie boten einige Plätze für Mitreisende an, so hatte sich jeder etwas bei den Reisekosten sparen können und mir bot sich die einmalige Gelegenheit, für nur ein fünftel des Preises,den ich allein gezahlt hätte, nach Paris zu kommen. Trotz des Fakts, dass ich niemanden in der Gruppe kannte, konnte ich nicht widerstehen und meldete mich schließlich an. Ich hatte zuvor bereits Bedenken, ein schlechtes Bauchgefühl, eine schlechte Vorahnung. Warum konnte ich nicht auf mein Bauchgefühl hören? Verzweiflung machte sich in mir breit, als ich immer weiter durch die immer leerer werdenden Straßen stapfte.
Ich hatte jegliche Orientierung verloren und schon seit geraumer Zeit kein Hotel mehr gesehen, auch die Läden an dieser Stelle der Stadt waren nur noch dünn gesäht. Die Sonne war nun bereits untergegangen und es war nur eine Frage der Zeit bis es völlig dunkel werden würde und ich mich entscheiden müsste, mir einen Schlafplatz zu suchen oder einfach weiter zu laufen. Doch ich wollte nicht den ganzen Weg wieder zurücklaufen, meine Füße schmerzten und ich wollte mich nur noch setzen. Es wurde allmählich deutlich kälter, ein kalter Luftzug ließ mich erschaudern. Die Häuser wurden immer kleiner und der Weg immer schmaler. Von dem einstigen Treiben war nichts mehr übrig. Stille war eingekehrt. Die schmale Gasse schien unendlich zu sein. Ich war nun an einem Punkt angelangt, bei dem es keinerlei Beleuchtung mehr an den Fassaden gab, mit zusammengekniffenen Augen konnte ich noch den rissigen, mit Graffiti besprühten Putz der verkommenen Häuser erkennen. Die Wände hatten Flecken, das Pflaster war an Teilen gebrochen und dicke Glasscherben lagen auf dem Boden. Es roch stark nach kaltem Zigarettenrauch und Abwasser. Dieser Teil der Stadt hatte nichts mehr von dem romantischen Flair, für den ich hierhergekommen war. Ich begann mich unwohl zu fühlen und wollte nichts wie raus aus dieser dunklen Gasse. Endlich konnte ich nun auch wieder Licht sehen, welches am Ende der Gasse schien. Vielleicht waren dort wieder Menschen, ein Laden, ein Restaurant, ein Hotel… irgendwas!
Meine Schritte wurden schneller und ich blendete die unangenehme Athmosphäre um mich aus. Ich hatte das Gefühl, wenn ich es nur schaffen würde, aus dieser verdammten Gasse zu kommen, dann wäre es vorbei. Ich fing an zu laufen, als ginge es um mein Leben, als wäre jemand hinter mir her. Ein Hund sprang an einen Zaun neben mir und bellte mir lautstark zu. Ich zuckte zusammen, doch ich rannte weiter. Ich musste es dort rausschaffen. Gleich würde ich es geschafft haben, dort vorne würden Menschen sein und ich wäre nicht mehr allein in dieser stinkigen Gasse und ich würde dort ein Hotel finden und in einem Bett schlafen können und… nichts.
Ich kam vor einer grellen Straßenlaterne zum Stehen, die am Rande eines kleinen Weges stand. Ich befand mich in einem Park, der so düster war, dass er mich nur noch nervöser machte. Ich ignorierte den kleinen Weg, welcher am Rande des Parks entlangführte und stapfte quer durch den Rasen. Meine Kehle schnürte sich zusammen, es war so dunkel, es war menschenleer. Die Verzweiflung machte sich in mir breit, meine Füße schmerzten und ich ließ mich einfach auf den Boden fallen. Ich wollte keinen Schritt mehr tun, einfach aufgeben, hier bleiben. Meine Augen füllten sich mit Tränen, ich hatte den Kopf gesenkt, meine Haare fielen mir ins Gesicht und ich schluchzte vor mich hin. Alles war still um mich herum. Da hörte ich plötzlich gedämpfte Schritte auf mich zukommen. Ich war wie versteinert. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Die Schritte kamen immer näher, ich zitterte vor Angst und Kälte, und als mich die Person fast erreicht hatte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Die Schritte hörten direkt neben mir auf. Da berührte mich schließlich etwas an der Schulter. Ich fuhr herum und blickte einer älteren Dame ins Gesicht. „Wo waren Sie nur? Wir haben überall nach Ihnen gesucht.“ Es war die Leiterin der Reisegruppe. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Ich dachte Sie hätten mich vergessen.“