Ist es das, was die Leute ein Ohnmachtsgefühl nennen?, schoss es mir durch den Kopf an diesem Freitag, als von einem Moment auf den anderen meine Welt Kopf stand. Dabei war es meine eigene Schuld, denn ich selbst hatte es mir eingebrockt, ich hatte die Entscheidung vor mir her geschoben - etwas, das mir überhaupt nicht ähnlich sah. Eigentlich war ich immer der festen Überzeugung, wenn man anfing, das Für und Wider einer Sache im Kopf durchzugehen, dann stand das Ergebnis im Prinzip schon fest und man versuchte eigentlich nur, sich selbst darin zu bestärken, das Richtige zu tun. An diesem Freitag aber waren so viele Stimmen um mich herum, die alle ganz unterschiedliche Ansichten zur Sache beitrugen, dass ich mich schlichtweg überfordert fühlte. Da merkte man einmal, wie abhängig ein Mensch von der Meinung anderer sein konnte.
Ich war immer schon das brave Mädchen, das sich allen Regeln fügte. In der Schule hatte ich hervorragende Leistungen, wodurch ich den Lehrern und Lehrerinnen positiv auffiel. Gleichzeitig kam ich auch mit den anderen Schülerinnen und Schülern gut klar und war dieses Jahr sogar zur Klassensprecherin gewählt worden – das musste doch etwas bedeuten. Nach der Schule war vor der Schule und ich ackerte immer hart, manchmal vielleicht auch zu hart – ich war Perfektionistin. Nichts konnte gut genug sein. Ich bemühte mich, Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen, denn ich hatte gelernt, dass es so deutlich angenehmer war. Wenn es zu brenzlig wurde, gab ich einfach nach und die Diskussion war beendet. Ich war schließlich zu jung und naiv, als dass ich tatsächlich konstruktiv etwas zu den Gesprächen beitragen konnte, so mein Gedanke. Auf diese Weise hatte ich bisher alle meine Probleme gut gelöst.
Doch seit einigen Wochen beschäftigte mich etwas. In den Medien wurde es langsam populärer: Diese Klimaaktivistin aus Schweden, die die Schule schwänzte! Empörung unter einem Großteil der vor allem älteren Bevölkerung. Ich informierte mich stärker bezüglich der Klimakrise und deren bereits existierenden Auswirkungen. Je mehr ich las, umso entsetzter war ich. Ich verfolgte die Nachrichten und das geringe Verständnis für die Klimakrise war etwas, das zunehmend an mir nagte. Ich war in der achten Klasse und Klimaschutz war für mich bis dato ein Fremdwort. Es erinnerte mich an meinen Erdkundelehrer, der einmal im Unterricht gesagt hatte: „Ich glaube, die Welt wird nicht mehr so lange mitmachen. Ich bin schon zu alt, aber es könnte gut sein, dass ihr den Weltuntergang erleben werdet.“ Damals war ich in der fünften Klasse und zutiefst schockiert. Zu Hause hatte ich es meinen Eltern erzählt, doch die hatten es abgetan und gesagt, ich hätte es mir bestimmt nur eingebildet. Daraufhin hatte ich das Thema fallen gelassen. Erst jetzt hatte ich eine Vorstellung, was der Lehrer damals möglicherweise meinte.
Immer stärker verspürte ich das Bedürfnis, selbst etwas zu unternehmen und gleichzeitig entmutigte mich eine innere Stimme, wie wenig ich alleine würde ausrichten können. Dann kam im Netz die Info, dass am kommenden Freitag in meinem Ort eine Demo stattfinden würde. Plötzlich war da diese Möglichkeit zum Greifen nah. Zumindest, bis ich die Uhrzeit sah, wann der Protest sein sollte - um zwölf Uhr, also noch während der Schulzeit.
Als ich nun am besagten Freitag in die Schule kam, war ich noch immer unentschlossen, ob ich zur Demo gehen sollte. Mit meinen Eltern hatte ich vorher lieber gar nicht erst darüber gesprochen, denn ich war unsicher, ob ich mit ihrer Meinung zurecht käme. Eine Bestätigung dafür waren die Gespräche mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Die meisten Leute, mit denen ich befreundet war, erklärten mir, dass sie keine Lust auf Ärger von der Schule hätten. Außerdem fanden sie, sie seien nicht berechtigt zu gehen, weil sie selbst bisher auch kaum etwas gegen die Klimakrise unternommen hätten. Einzelne andere, die ich kaum kannte, erzählten wiederum jedem, der zuhörte, dass sie auf jeden Fall hingehen würden, denn dann mussten sie zumindest nicht den Unterricht bei Frau Zuber ertragen, die sie in den letzten beiden Stunden dieses Tages in Französisch hatten.
Ich wusste nicht weiter – das Ganze belastete mich sehr. Vor allem, weil auch die Lehrkräfte widersprüchliche Sachen sagten. Einzelne machten Andeutungen, dass sie dahinter standen, andere hielten uns einen Vortrag darüber, wie wichtig Schule sei. Das Verständnis dafür, dass aller Schulstoff uns letztlich nichts brachte, wenn wir unsere Welt weiterhin so sehr zerstörten, bis sie kaum noch bewohnbar war, schien den wenigsten dabei in den Kopf zu kommen. Ich wurde immer frustrierter. Viel zu schnell kam es zur zweiten Pause und damit dem Go für alle Jugendlichen, die sich auf den Weg zur Demo machen wollten.
Der Countdown lief ab und ich musste meine Entscheidung fällen. In diesem Fall war ganz klar, dass irgendjemand immer sagen würde, dass das jeweils andere wichtiger war. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie abhängig ich bisher von den Meinungen der anderen gewesen war. Nun versuchte ich, mir klar zu werden, was ich eigentlich wollte. Etwas, das mir nie beigebracht worden war. Das war es, was uns in der Schule wirklich gelehrt werden sollte! Meine Freundinnen und Freunde um mich herum beobachteten, wie doch einige andere das Gelände verließen, und tuschelten, was das wohl für Auswirkungen für diese Leute haben würde. Ich hörte ihnen gar nicht zu, versuchte immer noch, meinen inneren Disput auszufechten. Dann entschied ich mich und entschlossen griff ich zu meiner Tasche. Mit knappen Worten verabschiedete ich mich von den anderen und schon lief ich los, bevor sie noch etwas sagen konnten, das mich vielleicht wieder umgestimmt hätte. Ich rannte, um mich davon abzuhalten, meine Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Mein Herz klopfte in meiner Brust.
Als ich die Demo erreichte, überwältigte mich der Anblick der Menschenmasse. Es war unglaublich, wie viele gekommen waren! Sie alle gingen auf die Straße, um für Klimagerechtigkeit zu kämpfen. Ich fühlte mich glücklich, denn ich war mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung für mich getroffen hatte. Das Wichtigste war, dass es tatsächlich meine Entscheidung war. Noch nie hatte ich mich dem System widersetzt. Doch das System war es nun auch, welches mich zu dieser Entscheidung gezwungen hatte. Mir war klar, dass diese Demo von heute auf morgen nicht die Welt verändern würde. Sie konnte nur ein Anfang sein, und doch … es war ein Anfang. Ich lächelte.