Das Vorlesen habe ich schon immer geliebt.
Als ich klein war, las meine Oma mir Gutenachtgeschichten vor. Geschichten von kleinen Prinzen, lustigen Drachen und mutigen Ritterinnen. Geschichten von gut und böse, mit bunten Farben, viel Glitzer und Bildern. Als ich sieben Jahre alt war, verstarb sie. Die Zeit war schwer, doch in meinem Kopf war sie nicht fort. Sie lebte irgendwo in einer von Feenstaub bepuderten Burg, zwischen verschlafenen Prinzen und ehrfürchtigen Ritterinnen. Ich stellte sie mir als eine der Zauberinnen vor, von denen sie mir aus den Büchern erzählt hatte. Irgendwo, das wusste ich, lebte sie weiter, zauberte hier und da ein paar Einhörnern eine glänzende Mähne und buk leckere Kalyta für ein paar niedliche Drachen.
Die Geschichten, die sie mir vorgelesen hatte, hatten dieses Bild von ihr in mir zustande gebracht.
Als sie mir nicht mehr vorlas, war es mein Bruder, der diese Aufgabe übernahm. Von nun an hörte ich Geschichten von cleveren Detektiv:innen, verfolgte die spannenden Abenteuer von Helden und Heldinnen und fieberte aufgeregt mit, bis zum bitteren Kampf. Die finalen Duelle, in denen sich die Charaktere gegenüber standen, ließen Gänsehaut auf meiner Haut entstehen, meinen ganzen Körper kribbeln und meine Fingernägel sich in den Arm meines Bruders bohren. Meistens verursachte ich Kratzer, doch er lachte jedesmal nur, und zog mich damit auf, dass die Bücher mich so mitrissen. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Sobald eine Geschichte mein Interesse weckte, griff sie sofort zu und schloss mich ein in ihre Hand. Ich war gefangen in ihrem Bann, und ich liebte es.
Deshalb lernte ich so schnell wie ich konnte das Lesen, hörte nie auf damit, und er hörte auch nie auf, mir vorzulesen.
Bis zu dem Tag, der alles umwarf. So schnell, dass ich nicht mal mehr weiß, ob es an einem Tag geschah oder sich Schritt für Schritt über Wochen an uns heranpirschte. Ich wollte es wie eine Katze beschreiben, die sich ohne Laute ihrer Beute nähert, doch kein Lebewesen verdient es, hiermit verglichen zu werden.
Ich weiß nur, dass es laut war. Laut, plötzlich und mit viel zu schmerzhaften Folgen.
Schüsse, Schreie und dann Schweigen.
Seit ich hier unten festsitze, höre ich nichts mehr. Ich höre weder meinen Atem, noch den der anderen Menschen. Ich höre weder Panik noch Freude, weder Hoffnung noch Trost. Weder die Stimme meiner Oma, noch die meines Bruders. Beide sind fort. Mein Bruder musste gehen, gleich, nachdem es begonnen hat. Er wurde aufgerufen, und abgeholt, er sagte etwas zu mir, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Dann verschwand er. Er ließ mich zurück. Um anderen zu helfen. Ich weiß nicht, wo er ist, was er tut, ob es ihn noch gibt. Das einzige, was ich von ihm habe, ist der Gedanke an seine Heldenhaftigkeit und Superagent 000. Tag und Nacht, Stunde um Stunde, halte ich das Buch an mich gepresst. Das Blut fließt aus meinen Fingern, die ich krampfhaft auf den Deckel des Agenten drücke, meine Miene ist eingefroren. Es ist kalt. Die Luft ist alt und abgestanden. Rau ist ein treffendes Wort. Es passt zu den Wänden und zu den Gesichtern der Menschen. Seit Tagen spricht hier kaum jemand. Anfangs lagen noch mehr Worte in der Luft, doch mittlerweile ist alle Kraft entwichen und alle Sprache verblasst.
Ein kleines Mädchen fängt an zu weinen. Das Weinen schleicht sich heimlich herein. Erst ist es ein Schniefen, dann ein Schluchzen und schließlich ist nichts mehr aufzuhalten. Tränen brechen aus ihr heraus, Röte quillt in ihre Haut und Verzweiflung ergreift ihre Mutter, die sie auf den Arm nimmt und schaukelt. Es hilft nichts, die Kleine beruhigt sich nicht. Ein paar der anderen Menschen sehen auf, betrachten die beiden, mit leeren Augen und aufeinander gedrückten Lippen. Das Mädchen wird lauter, ein paar der anderen Kinder wissen nicht, ob sie es ihr gleichtun sollen, oder nicht. Ich an ihrer Stelle wäre in das Gebrüll miteingestimmt. Egal, wie viele Leute mir dabei zugesehen und gehört hätten, das hätte das Wasser in mir nicht zurückgehalten. Beinah wünsche ich mir, dass alle anderen auch zu weinen beginnen. Doch noch immer wird die muffige Luft bloß von den Nerven der Menschen, ihrer Leere und Unbewegtheit ausgefüllt. Die Mutter ist die einzige, die nicht zu Stein erstarrt bleibt. Ihr Blick gleitet von ihrer Tochter wie eine Kerze flackernd zu den anderen Leuten, durch den Raum, den Boden, die Decke entlang, und die Wand hinab. Bei mir bleibt er stecken. Er hält auf mir, der durchdringende, und doch zugleich fragende Blick, der sich an mir und dem Buch festkrallt, das ich an mich presse. Die Augen der Frau sind ihre Worte, ihre Bitte, die durch das Geschrei des Mädchens hindurch die Gedanken zurück in meinen Kopf fließen lässt. Zum ersten Mal seit Stunden, Tagen und Nächten. Lasse ich los. Ich höre auf, mein einziges Buch an mich zu drücken, und hebe es vor mein Gesicht. Ich schlage den Superagenten auf, blättere und bleibe stehen. Ich lese die drei Worte, die in bleistiftsilbriger Schrift auf der Seite geschrieben stehen. „Dieses Buch gehört:“. Darunter steht gekritzelt der Name meines Bruders. Und meine krakelige Unterschrift darunter. Ich lese die Wörter ein zweites Mal, dann richten sich meine Augen plötzlich auf.
Jahrelang wurde mir vorgelesen. Jahrelang habe ich Geschichten und Abenteuern gelauscht, von kleinen Prinzen, lustigen Drachen und mutigen Ritterinnen. Von cleveren Detektiv:innen, spannenden Helden und Heldinnen und von Superagent 000. Doch jetzt ist meine Zeit. Ich bin an der Reihe. Und ich würde vorlesen, diesem Mädchen und ihrer Mutter. Den anderen Kindern und Jugendlichen. Den Erwachsenen. Meiner Oma, meinem Bruder und mir selbst.