Die Kraft, um zu leben

Wettbewerbsbeitrag von Lia, 15 Jahre

Das Geräusch der Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken und sorgte abrupt dafür, dass sich mein Herzschlag beschleunigte. Natürlich freue ich mich, dass der Unterricht endlich vorbei ist, dass ich nicht länger dem langweiligen Gerede meiner Lehrer zuhören muss, aber noch weniger möchte ich nach Hause. Ich habe so eine riesige Angst vor meiner Mutter. Nie bin ich gut genug für sie, egal, was ich mache, immer meckert sie, immer schreit sie mich an. Mit zitternden Händen räumte ich meine Sachen in meine Schultasche und verließ den Raum.
 
Ich lief den Weg zur Bus Haltestelle und suchte mir einen Platzt relativ weit hinten. Nachdem ich mich hingesetzt hatte, holte ich mein Handy und meine Kopfhörer raus, um wenigstens für ein paar Minuten an einem Ort zu sein, an dem ich mich wohl fühlte, an dem ich weder Angst noch schmerzen fühlte und einfach mal frei sein konnte. Als der Bus losfuhr, hatte ich bereits die Kopfhörer im Ohr und meine Augen geschlossen und gab mich völlig der Musik hin. Nachdem wir meine Haltestelle erreichten, stieg ich aus dem Bus und lief nach Hause. Direkt als ich zur Tür reinkam, fragte mich meine Mutter, ob ich eine Arbeit zurückbekommen habe, das ist immer die einzige Frage, die sie mir stellt. Sie fragt nie, wie es mir geht, wie die Schule war oder sonst irgendwas, das Einzige, was sie interessiert, ist, dass ich in allem gut bin, obwohl gut ist das falsche Wort, ich muss perfekt in allem sein. Ich atmete einmal tief durch und erzählte ihr dann, dass ich in Mathe eine 4+ geschrieben habe. Ich versuchte ihr noch zu erklären, dass es mir am Tag, wo wir die Arbeit geschrieben haben, nicht gut ging. Dass ich währenddessen eine Panikattacke und danach einen Nervenzusammenbruch hatte, aber sie ließ mich nicht mal zu Wort kommen, sie schrie mich an, was für eine dumme Tochter ich sei, und dass sie nicht so eine Versager-Tochter haben möchte, wie mein Vater angeblich einer war. Hätte ich dich doch bloß abgetrieben, schrie sie noch bevor sie mich am Arm packte und die Treppe hinaufzerrte. Sie schubste mich in mein Zimmer und sperrte zu. Du bleibst jetzt in deinem Zimmer und glaub ja nicht, dass du heute noch etwas zu essen bekommst, dann hast du hoffentlich genug Zeit darüber nachzudenken, was du falsch gemacht hast. Als sie wieder unten war, ging ich zu meiner Schublade und holte ein Messer raus, was relativ weit unten versteckt war und dann fügte ich mir mit dem Messer Schmerzen zu. Blut trat aus den Wunden. Schnell nahm ich ein Tuch und wischte es weg. Natürlich war mir klar, dass es nicht gut ist, sich zu ritzen, aber ich brauche das, ich brauche diesen äußeren Schmerz, um wenigstens für ein paar Sekunden diesen inneren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Seit Jahren zerreißt er mich von innen hinaus und meine Mutter sieht es nicht. Nie bin ich gut genug für sie, klar, ich hatte keine gute Note in der Arbeit, aber auch wenn ich keine Fehler habe, lobt sie mich nicht, egal, was ich mache, immer findet sie irgendeinen Grund, um mich anschreien zu können. Als es Zeit war, schlafen zu gehen, knurrte mein Magen schon so laut, aber ich wusste, dass ich vor morgen früh nichts zu essen kriegen werde, egal, wie viel ich flehe und bettelte. Dann hörte ich ihre Schritte und sie sperrte die Tür auf. Natürlich nur, damit ich mir die Zähneputzen konnte, danach sperrte sie mich wieder ein, damit ich bloß nicht auf die Idee käme, mir aus der Küche etwas zu essen zu holen. Sie hätte auch die Küche zusperren können, aber findet es anscheinend besser, wenn ich in meinem Zimmer eingesperrt bin. Da es schon relativ spät war und mich die Müdigkeit langsam einholte, machte ich es mir in meinem Bett gemütlich und schlief auch schon bald wie ein Murmeltier. Als mein Wecker klingelt, hatte meine Mutter die Tür wieder aufgesperrt gehabt. Ich ging aus meinem Zimmer und lief die Treppe hinunter, um in der Küche was zu essen. Nachdem mein Teller leer war, machte ich mich für die Schule fertig. Als ich dort angekommen war, lief ich zu meinem Klassenzimmer und setzte mich an meinen üblichen Platz. Allerdings hatte meine Klassenlehrerin heute die grandiose Idee, eine neue Sitzordnung zu machen und natürlich durfte ich diesmal nicht alleine sitzen. Sondern saß neben Ben. Ich meine, ich kenne ihn nicht so gut, wir haben nie miteinander geredet, außer ein paar Mal ein Hallo. Nach dieser Stunde sprach er mich an und wir redeten. Ich hatte keine Ahnung das er auch so gerne liest wie ich, also tauschten wir uns die ganze Pause über unsere Lieblingsbücher aus und vereinbarten, dass wir in der Mittagspause zusammen in die Schul Bibliothek gehen.
 
Als es endlich so weit war, liefern wir gemeinsam den Gang entlang zur Bücherei. Dort angekommen suchten wir uns jeweils ein Buch aus, das wir interessant fanden und setzten uns in eine der vielen Leseecken. Nachdem wir in die ersten Seiten reingelesen hatten, suchten wir uns ein neues raus. Als ich oben im Regal ein Buch rausholen wollte, rutschte mein Ärmel runter, schnell schob ich ihn wieder hoch und hoffte, dass Ben die Narben und die blauen Flecken nicht gesehen hat, aber das war leider nicht der Fall. Ich versuchte mich irgendwie rauszureden, weil ich nicht wollte, dass er mich jetzt für komisch hielt. Doch er lachte nicht, er ging nicht weg und sagen tat er auch nichts, er kam nur zu mir und umarmte mich ganz fest. Zuerst war ich überrascht, aber dann erwiderte ich sie. Keine Ahnung, wann mich jemand das letzte Mal in den Arm genommen hatte, aber ich genoss es. Dann setzten wir uns wieder hin und er fragte mich, ob ich darüber reden möchte. Erst wollte ich nein sagen, aber irgendwas in mir wollte reden, so lange habe ich geschwiegen, so lange habe ich all diesen Schmerz in mich reingefressen, also fing ich an, zu erzählen und ich erzählte ihm alles. Wie meine Mutter mich seit Jahren geschlagen und verprügelt hat, wie sie mich so oft eingesperrt und angeschrien hat und mir gedroht hat, mich umzubringen. Die ganze Zeit hörte er mir aufmerksam zu und dann erzählte er von sich, wie er vor ein paar Jahren versucht hat, sich umzubringen und seine Ärztin ihn gerettet hat. Durch sie hatte er wieder die Kraft zu kämpfen und hat wieder gelernt, wie man lebt. Bis heute ist er in Therapie und hat sein Leben zurück. "Ich weiß, wie unfassbar viel Kraft es kostet, Hilfe zu holen, zu kämpfen und ja es wird lange dauern, du wirst wieder hinfallen, aber ich werde dir helfen wieder aufzustehen. Du hast jetzt so lange alleine gekämpft, also lass mich mit dir an deiner Seite kämpften und egal, wie lange es dauert, ich werde deine Hand nie loslassen."
 
Ab diesem Moment habe ich gekämpft. Ich habe meine Mutter beim Jugendamt gemeldet und kam zu einer Pflegefamilie, die mich nach ein paar Monaten auch adoptiert hat. Endlich hatte ich eine Familie, von der ich immer geträumt hatte. Ich habe auch eine unglaublich nette Therapeutin, mit der ich über alles reden kann. Natürlich der Kampf ist immer noch nicht gewonnen, aber ich bin schon näher am Leben dran als gestern und morgen schon mehr als heute.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Lia, 15 Jahre