Die Pusteblume

Wettbewerbsbeitrag von Felix Trautwein, 17 Jahre

Freiheit, träumend, ziellos treibend – so erblicke ich das Licht der Welt. Unter mir die Erde, über mir die Sonne, um mich das Licht, das Leben, die Hoffnung. Hoch in den Lüften, getragen von leichten Frühlingswinden, gleite ich über die grün aufblühende Traumlandschaft. Kleinste Knospen sprießen aus dem sonst noch kahlen Gestrüpp und das Leben fängt an, die Leere zu verdrängen, die der Winter hinterlassen hat. Inmitten dieses Naturspektakels, unter dem Bühnenlicht der tausend Morgensonnenstrahlen, die sich im frischen Tau brechen, schwebe ich gen Horizont. Die Sonne im Rücken, das Leben vor Augen, unbekümmert, losgelöst, liegt die Welt doch unter meinen Füßen. Und wie ich da so sinnbefreit durch die Luft tanze und dem Belieben der Winde mein Schicksal überlasse, macht der Morgen dem Tage Platz. Die Wärme nimmt zu und kitzelt kleine Wolkenfäden aus der feuchten Erde, bis mit dem Verschwinden der Tautropfen auch die letzte Frühlingsbrise zu einem sanften Lufthauch verebbt. Noch einmal schweift dieser über das zarte, frische Gras, trägt mich über die weite Wiese, immer näher, den tausend jungen Grashalmen entgegen und zieht schließlich seinen Freunden in der Ferne hinterher.

Dann kommt auch mein Segelflug zum Erliegen und mit dem sanften Anlanden auf der frischweichen Erde beginnt ein neuer Abschnitt meines Lebens. Die kindliche Naivität macht einem befriedigenden Gefühl von Selbstbestimmung Platz. Was brauche ich schon ziellose Winde, wenn ich meines eigenen Schicksals Herr sein kann. Nur tüchtiges Arbeiten führt nun zum Erfolg. So beginne ich, langsam Wurzeln zu schlagen und behutsam in das Erdreich vorzudringen – Stück für Stück, immer weiter, beständig, rastlos und unaufhaltsam, bis sie meterweit in die Tiefe ragen. Schon schnell trägt meine Mühe Früchte in Form einer wundervollen Blätterpracht. Auch der Sonne komme ich wieder näher, indem ich meinen langen Hals hoch über die einst so gigantischen Halme der Wiese recke. Nach wochenlanger Anstrengung bildet sich eine goldene Krone auf meinem Haupt. Schillernd glitzert sie in der Sonne und als Symbol für meine harte Arbeit und meinen verdienten Erfolg strecke ich sie stolz dem Himmel entgegen. Nach all der Zeit ist das einst so fremde Stück Erde, auf dem ich mich vor einer Ewigkeit niedergelassen habe, zu einem wunderschönen grünen Fleckchen Wiese geworden, das ich mein liebgewonnenes Zuhause nennen kann.

Auch das Wetter fängt jetzt an sich zu wandeln. Die Sonne lässt sich seltener und kürzer blicken und der einst so klare blaue Himmel wird immer wieder von grauen Regenwolken verdeckt. Der sommerliche Niesel ist einem beißend kalten Platzregen gewichen. Die gerade noch vor Leben wimmelnde Wiese scheint nunmehr leer, grau und trist. Braungrüne Grashalme hängen eingeknickt und die Sommerblumen haben ihre bunten Blüten eingezogen. Mein Blätterwall schützt mich nur bedingt vor der zunehmenden Kälte und auch meine Wurzeln schöpfen weniger Lebensenergie als noch vor wenigen Wochen. Eine Stagnation macht sich breit – über mir und der ganzen Welt. Schon lange wachse ich nicht mehr und kann nur noch darauf hoffen, dass bald die warmen Sommertage zurückkehren. Doch das Wetter wird nicht besser und ich immer frustrierter. Eines Tages, während ich nostalgisch in den Himmel starrend alten Erinnerungen hinterherschwelge, passiert es. Eine dichte Wolkenschicht hat sich zusammengezogen und Dunkelheit macht sich über der Wiese breit. Ich bin schon auf beißenden Regen, grelle Blitze und einen Sturm, der mich aus dem Boden zu reißen droht, vorbereitet. Doch stattdessen hält der Wind den Atem an. Totenstille macht sich breit. Eine unheimliche Ruhe. Ein paar Herzschläge lang passiert gar nichts. Dann, ganz langsam, rieselt ein einsamer weißer Eiskristall der Erde entgegen. Wunderschön verschachtelt dreht er sich einmal um sich selbst und jongliert dabei verspielt mit dem letzten bisschen Licht, das den Weg seines einsamen Tanzes kreuzt. Kurz bevor die Schneeflocke meine goldene Krone erreicht, dämpft sich ihr Fall ab und sanft wie ein Kuss landet sie auf dem weichen Blütenbett. Ich zittre. Das ist kalt. Eiskalt. Der nächste Blick nach oben offenbart tausend weitere wundervolle Eistänzerinnen. Pirouetten schwingend und elegant ziehen sie den Tod hinter sich her. Leichter als eine Feder im Winde scheinen sie nach unten zu gleiten. So schön, so gefährlich.

Liebend gern würde ich diesem Naturspektakel zusehen, bis der Sommer wiederkommt, doch bevor diese wunderschöne und doch so grausam kalte Macht mich erreichen kann, verschließe ich schützend meine Blüte. Ziehe mich zusammen, wie die Tulpen und Rosen schon vor etlichen Wochen, umhülle mein prächtigstes Gut in einem feinen Kokon aus grünen Blättern. Dumpf spüre ich die Schneeflocken aufschlagen. Nur entfernt bemerke ich eine dünne, kalte Haut aus Eis, die sich auf meinen ganzen Körper legt. Ein melancholisches Rauschen beginnt, die unheimliche Stille um mich herum zu verdrängen. Mit ihm, so schein es mir, werden all mein Schmerz und all meine Gedanken hinweggespült, verdrängt, betäubt. Halb schlafend nehme ich nur noch die großen Änderungen in meinem Umfeld wahr. Inzwischen befinde ich mich unter einer tiefen Decke zentimeterhohen Schnees. Zeit verliert in meinem Rauschzustand immer mehr seine Bedeutung. Tage und Nächte verschwimmen, und Wind und Wetter existieren nicht mehr. Sogar oben und unten sind leere Begriffe, an deren entfernte Bedeutung ich nicht zu denken vermag. Die ganze Welt scheint wieder so sinnbefreit wie am ersten Tag.

Es müssen Monate vergangen sein, seitdem ich den ersten Schnee vom Himmel rieseln sah. Doch langsam scheint mein Bewusstsein zurückzukehren. Zäh und langwierig dauert dieser Prozess und auch voll aufgetaut spüre ich, dass meine alten Kräfte im Winter verloren sind. Braune abgeknickte Blätter neben mir sind alles, was von der glorreichen Zeit geblieben ist. Nur Stängel und Krone scheinen überlebt zu haben. Meine Krone – da fällt sie mir wieder ein. Noch immer ragt sie unter ihrem verschlossenen Blätterkokon in die Höhe. Vorsichtig und behutsam entfalte ich meine goldgelbe Blütenpracht. Doch keine Sonnenfarbe bricht unter dem Grün hervor, sondern ein Weiß, wie es reiner nicht sein könnte. Unberührt und schön wiegen sich tausend neue Hoffnungsträger in der frischen Frühlingsbrise. Und ich denke zurück an alles, was war. Als ich selbst noch als kleiner weißer Fleck über die Frühlingswiesen tanzte, unbesorgte Zeiten durchlebte und noch so voll Potential steckte. Ich denke an mein selbstbestimmtes Leben, harte Arbeit und Erfolg. Daran, wie der Winter kam und wie wundervoll doch das Leben spielt. Selten war ich glücklicher, selten war ich trauriger. Tausend neue Leben, tausend Frühlingsträume im Winde verweht warten darauf, langsam zu erwachen. Wohin wird es sie treiben? Wie wird das Leben ihnen spielen?
Mit der nächsten Windböe lasse ich sie fliegen, tanzen, leben.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.