Unser dynamisches Gekicher hallte an den trostlosen Kacheln der U-Bahn-Stadion wieder. Einige Leute drängelten sich durch die weiten, mit allerhand Werbung verzierten Gänge, in denen sonst keinerlei Farben vorzufinden waren. Das grelle Weiß der Wände ließ eben diese unangenehm dreckig wirken, die viereckigen Kacheln, beklebt mit den unterschiedlichsten Stickern. Unsere ungehalten labernden Münder, deren Mundecken amüsiert nach oben gezogen waren, gewährten dem melancholischen Gang benötigtes Lebenslicht. Fast im Gleichschritt schlenderten unsere Füße, gesteckt in Schuhe, welche wir anhand der vorhandenen Persönlichkeit problemlos dem jeweils anderen zuordnen konnten. Ellenas Hand umklammerte ihr Frühstück. In der hellbraunen Brötchentüte stapelten sich die gezuckerten Windbeutel und kugelten bei der schwungvollen Handhabung ihres kurzzeitigen Zuhauses träge umher. Das Material der Tüte knisterte beruhigend, schloss sich dem gedämpften Schlürfen Ninas an, die beiläufig ins fließende Gespräch vertieft vorsichtige, kleine Schlucke ihres zu heißen Kaffees zu sich nahm. Währenddessen hatte Jessie ihre schlichte Schultasche, bestehend aus einer einfachen Stofftüte, über ihre zierliche Schulter gleiten lassen, um ihre soeben gekaufte, alltägliche Breze, verpackt in derselben braunen Papiertüte, in ihr Schulzeug gleiten zu lassen. Mira hatte ihre Laugenstange bereits verpackt, unschlüssig wie sie ihren Worten Ausdruck verleihen konnte, wedelte sie mit den Silben ringend in der stickigen Luft der U-Bahn-Stadion herum, um uns mit verwirrender Gestik ein klares Bild zu verschaffen.
Unsere Gruppe, bestehend aus fünf verbundenen Gefährten, bahnte sich ihren Weg durch das morgendliche Getümmel, das flackernde Schild, welches uns unseren Ausgang versprach, bereits an der Decke baumelnd erkannt. Ich lachte angetan. Meine Finger schlossen sich fester um meine Backwarentüte, in der meine geliebte Tomaten-Mozarella-Semmel soeben eine ihrer feuchten Tomatenscheiben verlor. In meiner Jackentasche klimperte mit jedem weiteren Schritt das Geld, welches mir meine Freundinnen perfekt passend in die Hand gedrückt hatten, nachdem ich den Bäcker zusammen mit Mira, voll bepackt mit ihrem gewünschten Frühstück, bedacht einen langsamen Schritt nach dem anderen verließ. Sie wussten, was sich in den vielen Tüten duftend verbarg. Dabei hatten sie nichts gesagt. Ihre Wünsche nicht an Mira und mich weitergegeben. Und dennoch war mir jede Vorliebe von ihnen bekannt und ihre Gewohnheiten ein selbstverständlicher Teil meines eigenen Alltags. Während wir uns erstaunlich wendig für eine Gruppe an Passanten vorbeischlängelten, stießen mir verschiedene Gerüche in die kribbelnde Nase, welche unterschiedlicher nicht sein konnten. Dem kräftigen Zigarettenrauch ausweichend und dem fruchtigen Parfüm innerlich mit Sehnsucht hinterherjagend, drängte ich mich näher an meine Freunde und presste mich dabei an Miras Schulter. Ohne davon Notiz zu nehmen gingen wir weiter. „Nun, da wären wir“, gluckste Jessie, die noch ganz berauscht von Miras belustigender Geschichte war. Mit einem Mal bleib die eingespielte Gruppe stehen. Verwirrt runzelte ich eine Augenbraue, eine bekannte Geste, die nicht unbemerkt blieb. Nina musterte mich kurzzeitig und zeigte keck mit einem breiten Lächeln ihre Zähne. „Ach komm schon Süße. Erster Tag nach den Sommerferien, schon vergessen?“ In meinem Inneren brach mein naives Glück zusammen. Stimmt. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Jessie zu mir huschen, ehe sie mich in eine lange, warme Umarmung zog. Mira neben mir folgte, dann die anderen zwei. Es war schnell vorbei. „Alles klar“, drang aus meinem Mund und glitt an meinen Lippen entlang.
Nun stand ich da. Inmitten der beschäftigten Menge, der Menschen, die, ohne großartig Notiz von mir zu nehmen, an mir vorbei gingen und mir nur flüchtige Blicke schenkten. Mein Blick, der eben noch ihren immer kleiner werdenden, vertrauten Rücken hinterher gesehen hatte, wurde unscharf. Herrisch verwehrten mir meine aufbegehrenden Tränen meine Fähigkeit eines klaren Blickes. Tapfer drängte ich sie zurück, konnte jedoch nicht verhindern, dass meine Seelenspiegel wässrig wurden. Die Leere in meinem Herzen begann mich, schutzlos wie ich war, kaltschnäuzig zu verfressen, bleckte gierig die Zähne. Kummer übermannte mich wie ein schwarzer Tsunami, durchflutete meinen kraftlosen Körper, sodass jegliche Freude restlos vertrieben wurde. Verlorenheit nahm mich an die Hand. Das Gefühl des Verlustes stieß mich in einen melancholischen Ozean, in dessen Tiefen ich wehrlos und mit schlaffen Gliedern trauernd versank. Sie hatten es zu lindern wissen gekonnt, meine Verzweiflung und meine Einsamkeit, genährt von den unterschiedlichsten Feinden.
Schlurfend setzte ich einen Schritt vor den anderen. Mein Körper erschien mir federleicht, während mein Inneres würgte und immer schwerer wurde. Ich tauchte mit gesenktem Blick in der Menge ab, auf dem verhängnisvollen Weg auf meine neue Oberschule, welche nicht die ihre war.
Zur selben Zeit mit meinen unermüdlichen Tränen und dem Gefühl endloser Leere, die ich zu besiegt geglaubt hatte, ringend, schluckte ich und flitzte nun mit raschen Schritten die kahlen Wände der U- Bahn-Station entlang. Die Vergänglichkeit nagte an meinen Knochen, unterjochte jeden optimistischen Gedanken und rang jedes positive Gefühl nieder. Die Unbeständigkeit unseres, als normal geglaubten und als ewig während empfundenen Alltages machte mich krank. Derartig alleine hatte ich mich noch nie gefühlt. Meine negativen Empfindungen schnitten sich regelrecht in mein warmes Fleisch, quälten und peinigten mich kaltherzig. Plötzlich legte sich kraftvoll mit einer ungehemmten Wucht ein Arm um meine Schultern. Überrumpelt schrie ich schrill auf und fuhr zusammen. Mit wummernden Herzen blickte ich mit großen Augen in die grünen Miras. Ihr Gesichtsausdruck, der überraschte Entschuldigung widerspiegelte, wich einem grinsendem Lächeln sowie ihrem hektischen Atem. Sie war zu mir gerannt. „Ich habe vergessen zu sagen, dass wir uns in der Mittagspause im Kiosk da drüben treffen.“ Ihr Zeigefinger zeigte nach rechts. Meine Augen folgten tränend. Ein flüchtiges „Bye“ folgte, ehe sie zurück in die Menschenmasse sprang. Zitternd vor Schock blickte ich ihr erneut hinterher. Treffen. Zum Mittagessen. An einem windigen Kiosk mit geringer Auswahl. Wie damals. In unserer alten Schule. Freude bäumte sich in mir auf. Sie dachten an mich. Wollten mich ebenfalls nicht verlieren. Es war noch nicht vorbei. Meine Seelenspiegel leuchteten erleichtert. Rasch schüttelte ich meinen Kopf und mit ihm meine rabenschwarzen Gedanken daran, dass alles verloren war und ich meinen Weg nun ohne meine Freundinnen beschreiten musste. Denn das, so war mir nun schlagartig bewusst, war nicht der Fall. Sie würden mir nicht aus den Händen entgleiten. Nach der Schule würden wir uns wieder treffen. Wir würden gegen die Vergänglichkeit ankämpfen.