Mein Talent? Ich stolpere. Ich stolpere über Steine, über Wörter. Ich stolpere über Menschen und Aufgaben, an denen ich eigentlich wachsen sollte.
Mein Talent? Liegen bleiben. Meine Gedanken? Hat das jemand gesehen? Kann ich nicht einfach hier liegen bleiben?
Hätte ich mich damals aufgerafft. Wäre dann hier – ich greife mir an die Brust – nicht so eine Leere. Nein, keine Leere. Ein Klumpen.
»Hey Jonas. Liegst ja schon wieder hier rum?« Max stellt sich vor die Sonne, die mein Gesicht so schön gewärmt hatte.
Schon wieder? Der vorwurfsvolle Ton passt nicht.
Zum Glück trifft es eher. Hier unter dem Baum. Mein Lieblingsbaum. Eine Trauerweide. Hier habe ich meine Ruhe. Zwischen den Vorlesungen. Zwischen Small Talk, Zwischen Ich-will-eigentlich-nach-Hause und Ich-habe-keine-Lust-mir-Bilder-von-der-letzten-Party anzusehen.
Zwischen ich sollte, ich will, aber ich kann nicht.
Der Baum umhüllt mich. Sicher in meinem Kokon. Ob du wohl immer noch an unserem Platz wartest. Jeden Abend. Nicht jeden Abend. Nur die Abende, an denen die Sonne aussieht wie eine Tomate. So haben wir es ausgemacht. Damals noch auf dem Fußballplatz. Bevor unsere Familien sich zerstritten haben. Bevor ich ein Angsthase geworden bin. Dein bester Freund, den du immer so bewundert hast. Aber mit Bewunderung bin ich noch nie klargekommen.
»Willst du nicht mit auf die Party?«
Wollte ich jemals mit? Ich kann mich nicht daran erinnern. Max hat mich, seit ich ihn kenne, überall mit hingeschleppt. Klar, dann kann man auch nicht stolpern.
»Heute kann ich echt nicht.« Heute hatte ich keine Lust, durch den Matsch gezogen zu werden – oder durch den Kakao. Auch wenn alle immer nett sind, spüren sie doch immer die Mauer, die ich zwischen ihnen und mich baue. Da bleibt ihnen nichts anderes übrig, als über den Komischen zu reden, damit sie sich so normal wie möglich fühlen. Damit sie sich nicht mit dem Klumpen in ihrem Herzen auseinandersetzen müssen.
»Das sagst du immer«.
Weil ich nicht kann. Manchmal müssen es keine äußeren Umstände sein, es reicht die Blockade hier. Ich schnippe mit dem Finger gegen meine Stirn.
»Was machst du da?«
»Nichts, was du verstehen würdest.«
Max zuckt mit den Schultern, das ist wohl sein auf Wiedersehen, denn damit ist er auch schon wieder verschwunden.
Ich schließe meine Augen noch einmal. Ich denke zurück an damals. An das damals, wo du noch eine Rolle gespielt hast. Ich sehe uns, als es das noch gab – ein uns. Wir, wie wir dort sitzen. Du weißt schon, oben auf dem kleinen Hügel, auf den der kleine Kiesweg führt. Der Holzzaun auf den wir uns immer gesetzt haben. Wir haben uns eine Tafel Schokolade gekauft. Ich weiß genau welche, ich kann sie seitdem nicht mehr sehen. Der letzte Abend, du hast gesagt, wir treffen uns dort. »Bring deine Sachen morgen mit, wir hauen ab«, hast du gesagt.
Es klang so überzeugend, dass ich es nicht glauben konnte. Ich dachte, du machst dir selbst etwas vor. Dabei war ich es, der sich etwas vormachte. Ich wusste, du meintest es ernst. Du wolltest weg. Weg von unseren Vätern, die sich nicht leiden können. Deiner, den meiner gefeuert hatte. Dein Vater, der immer für uns da war. Wie könnte ich ihm je wieder unter die Augen treten. Du, der immer für mich da gewesen war. Wie hatte ich dich verraten können. Ich stolpere. Stolpere immer wieder über diese Erinnerung.
Ich schüttele den Kopf und versuche damit, die Erinnerung loszuwerden. Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich rappele mich auf und klopfe mir etwas Gras von der Hose. Die Sonne verabschiedet sich langsam. Sie schimmert bereits Orange, das Rot kündigt sich in kleinen Sprenkeln darin an. Der Himmel gibt mir heute den Rest. Ich kriege kaum mit, wie ich nach Hause gehe. Bis ich genau davor stehe. Zuhause, ein Wort, das hier keine Bedeutung findet. Ich bleibe eine Weile vor der großen weißen Holztür stehen. Ich höre, wie mein Vater im Flur auf und ab läuft und irgendwas in sein Telefon schreit. Er schreit ständig. Als wäre es eine Sportart. Ich schüttele den Kopf. So sollte es nicht sein. Ich schleiche mich hinter das Haus und klettere das Rohr bis zu meinem Zimmer herauf. Schnappe mir ein paar Sachen, werfe sie runter und hangele mich zurück auf den Boden. Ich schultere die Tasche mit meinen Sachen und laufe die Straße entlang. Wie eine Linie, die mich irgendwo hinführt, aber wohin weiß ich auch nicht. Wie eine Perle an einer Schnur laufe ich an ihr entlang. Die Erinnerung weiß, wohin ich muss. Den Blick auf den Himmel gerichtet, verliere ich kurz den Fokus. Etwas stellt sich mir in den Weg, ich stolpere. Ich halte meine Tasche fest, kneife die Augen zusammen. Als ich sie öffne, hält mir jemand seine Hand hin. Du – vor der roten Sonne.
Ich stolpere. Ich stolpere über Steine, über Wörter. Ich stolpere über Menschen und Aufgaben, an denen ich eigentlich wachsen sollte. Aber wer stolpert denn nicht. Ich greife nach deiner Hand. Wer nicht stolpert, kann sich auch nicht helfen lassen. Hilfe ist Hoffnung. Freundschaft ist Hilfe. Freundschaft ist Hoffnung. Hoffnung, dass du irgendwo noch bist. Ich greife deine Hand so fest ich kann. In der Hoffnung, dass ich sie nie mehr loslassen muss. Ich stolpere, aber ich stehe wieder auf. Ich stolpere, ich wachse. Jede Wunde eine Geschichte. Und du eine davon, die ich beim Stolpern fallen gelassen habe. Aber jetzt hebe ich uns wieder auf.