Wieder sitze ich zwischen meinem vollgestopften Kleiderschrank und dem Fenster meines Zimmers. Mein Blick ist auf mein fast schon verstaubtes Bett gerichtet. Schon lange schlafe ich nicht mehr da drinnen. Nicht weil ich von zuhause ausgezogen wäre, nein, ich verbringe jede Nacht auf den abgefahrensten Partys, hab Spaß mit meinen Freunden und fühle mich jedes Mal so frei als könnte ich alles schaffen. Dieses Gefühl ist der Hammer, ich genieße jede Sekunde, die ich damit bekommen kann. Trotzdem ist mein Inneres kalt und leer.
Wenn ich zurück zu dem Haus komme, das sich vor ein paar Monaten noch nach Zuhause angefühlt hat, kommen Gefühle hoch, die ich sonst immer zu verdrängen versuche. Gefühle, von denen ich keine Ahnung habe, woher sie kommen. Auf einmal laufen mir eisige Tränen über die Wangen und ich kann nichts dagegen tun. Einfach gar nix. Es passiert einfach und ich weiß nicht warum. Ich würde alles tun, um meine verdammten Gefühle in den Griff zu bekommen! Aber ich schaffe es nicht, ich fühle mich einfach nur leer.
Also wache ich jeden Morgen in meinen verschwitzten, nach Rauch stinkenden Partykleidern in der letzten Ecke meines Zimmers auf. Genau wie jetzt. Ich fahre mir durch die Haare, sie sind verklebt und riechen nach Alkohol, es ist eindeutig Zeit zu duschen. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass ich 4 Stunden geschlafen habe, was ziemlich lange ist für meine Verhältnisse. Der Bildschirm erlischt und mein Gesicht spiegelt sich im Glas meines Handys. Ich sehe schrecklich aus. Meine Augen sind geschwollen und mein Make-Up von letzter Nacht lässt mich wie ein Waschbär aussehen. Mir wird klar, dass ich mich beeilen sollte, wenn ich nicht schon wieder zu spät zum Unterricht kommen will. Also mache ich mich fertig für mein wahres Leben, welches so anders ist. Ich schminke mich ab und beseitige den Rest meines Zusammenbruchs von gestern Nacht. Mein Handywecker klingelt und zeigt mir, dass es eindeutig Zeit ist aufzubrechen.
Ich sprinte also so schnell ich kann noch zur Haltestelle, an dem mein Bus schon steht, ich springe noch hinein, bevor die Tür schließen kann. Natürlich ist der ganze Bus bis hinten voll. Mein Blick schweift über die Gesichter. Mir fällt auf, dass ich fast jeden kenne. Doch dann bleibt mein Blick hängen an einem Typen, den ich wirklich noch nie gesehen habe. Daran würde ich mich erinnern, so einen hübschen Typen vergisst man nicht so schnell. Auf einmal realisiere ich, dass ich ihn direkt anstarre. Ich schaue schamerfüllt weg und versuche so schnell wie möglich zu meinem Stammplatz zu gelangen. Ich hoffe er hat mich nicht bemerkt... Ich setze mich zwischen Jimmy und Roth, die meine roten Backen direkt entdecken. “Uh, ich denke Lucy hat den Neuen auch schon entdeckt”, flüstert Roth Jimmy schelmisch ins Ohr. Ich schlage ihn gegen den Oberschenkel, ”Halts Maul, Roth”. Jimmy sitzt neben uns und kriegt sich fast nicht mehr ein. Mein Blick huscht heimlich zu dem Neuen. Ich sehe, wie er direkt zu uns rüber sieht. Er hat ein süßes, etwas belustigtes Lächeln auf den Lippen. Mein Gesicht nimmt nun eindeutig die Farbe einer Tomate an. Wieder schaue ich schnell zurück zu Jimmy und Roth, beide machen irgendwelche Scherze über mein Liebesleben.
Als wir aus dem Bus austeigen, lehne ich mich ein Stückchen zu Jimmy herüber. “Wie heißt der Neue denn jetzt?” “Oho, Lucy hat wirklich Interesse an Ravi”, posaunt er fast über den ganzen Schulhof. Naja, gefühlt... Wahrscheinlich haben es eigentlich nur ich und Roth gehört. Der neue ist also Inder, das hätte ich mir auch denken können. Er läuft gerade an uns vorbei, als ich über meine eigenen Füße falle. Mal wieder... Aber die Situation wird noch peinlicher, ich falle ihm auch noch direkt in die Arme. Er fängt mich sicher auf, als ob er so etwas öfter machen würde. Er hebt mich hoch und wir sehen uns in die Augen, er hat wunderschöne dunkelbraune Augen, und diese Wimpern der sind Hammer. “Hey, Ich bin Ravi. Alles okay bei dir?” Ich spüre zwei Blicke an meinem Rücken kleben. Roth und Jimmy stehen in 5 Meter Entfernung und versuchen jedes Wort mitzubekommen. “Ehm, es tut mir so leid... Ich bin Lucy.” Meine Stimme hört sich schrecklich hoch an. Ravi lächelt mich trotzdem an und gibt mir eine Ghetto-Faust. “Schön dich kennen zulernen, Lucy. Vielleicht sehen wir uns ja später beim Essen. Pass auf, dass du nicht wieder fällst.” Er zwinkert mir charmant zu und ich nicke nur wie blöd, während er mir noch ein letztes Mal sein markantes Gesicht mit so perfekt geschwungenen Lippen zeigt.
Roth und Jimmy stürmen auf mich zu und sind so aufgeregt, als wären wir noch in der Grundschule. Sie löchern mich mit Fragen und bombardieren mich mit Kommentaren. Ich habe endlich Zeit zum Nachdenken, als wir in unsere Kurse gehen. Mein Kunst Kurs ist dazu perfekt. Ich bin einer der ersten im Raum und packe schon mal meine Sachen aus, als der Rest herein kommt. Wir sind gerade dabei uns in Zweier-Gruppen aufzuteilen als es an der Tür klopft. “Herein”, ruft Mr. Alvarez in Richtung Tür. Die Tür geht auf, ebenso mein Mund. Ravi steht in der Tür. “Ach Mr. Ravi, da sind Sie ja, ich habe auf sie gewartet. Wie war Ihr Gespräch mit unserem lieben Herrn Direktor?” Mir fällt endgültig die Kinnlade herunter. Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass dieser Typ in so einen Freak-Kurs geht wie diesen hier. Ich schweife in die peinlichsten Begebenheiten, die passieren könnten, ab. Bis ich in Mr. Alvarez´ Satz meinen Namen höre. Ich bekomme mit, wie er zu Ravi sagt, ich wäre sein Partner für dieses Projekt. Jetzt würde ich gerne meinen Kiefer aushängen können, damit er noch tiefer fallen könnte, aber das kann ich nicht.
Ich reiße mich zusammen und durchstehe die ganze Stunde, ohne zu sabbern. Das war gar nicht so schwer, denn Ravi ist zu lustig. Dazu auch noch künstlerisch begabt und einfach perfekt. Als ich mit ihm in die Cafeteria komme, sehen die Jungs höchstwahrscheinlich genauso aus wie ich gerade im Kurs. Wir setzen uns dazu und wir fangen an zu reden. Wir reden über alles, über Dinge, die ich nicht mal auszusprechen gewagt habe. Ich bin überrascht, dass wir nicht in einem nervösen Schweigen am Tisch sitzen. Es ist als wäre Ravi schon immer da gewesen. Als ich gerade darüber nachdenke, was wir als Gruppe alles erleben könnten, lausche ich auf. Er erzählt etwas von einer Jugendpsychiatrie, die ihm geholfen hat, aus seinem Loch zukommen. Er erzählt von seiner Vergangenheit, wie sein Vater vor mehreren Jahren gestorben ist und seitdem nichts mehr gleich war bei ihnen zuhause. Er erzählt, wie er dann in eine schlimme Drogenszene abgerutscht ist, um seine Trauer zu bewältigen. Und wie er schlussendlich in Therapie gegangen ist, um seinen `Kopfsalat´ wieder geordnet zu bekommen. Ich breche plötzlich in Tränen aus und erzähle nun allen dreien meine Geschichte. Als ich fertig bin, finde ich mich in einer Gruppenumarmung wieder. Ich fühle mich geborgen und zum ersten Mal fühle ich etwas in mir, was ich zuletzt vor sehr langer Zeit gespürt habe. Es ist warm und kribbelt in meinen Bauch. Ich fühle mich geliebt, aber vor allem fühle ich mich zuhause.