Ich betrachte nachdenklich die Krippe. Josefs Daumen ist gebrochen und mit Tesafilm wieder an der Hand befestigt. Ich grinse. „Ob die Maria wohl auch so ein feines Kleid angehabt hat, damals, aus so einem teuren Stoff?“, werde ich plötzlich von hinten angesprochen. „Wohl eher nicht, aber Josef sieht doch- bis auf den Finger mit Tesaschiene- realistisch aus.“, antworte ich verwundert.
Als ich mich umdrehe erblicke ich eine abgerissene Person, die einen graugrünen, langen Mantel und Gummistiefel trägt. Ob die Person ein Mann oder eine Frau ist, weiß ich nicht. Der Stimme nach eine Frau, beschließe ich einfach mal. Vermutlich eine Pennerin, was die nächste Frage auch bestätigt: „Sagen Sie mal, wo findet man heute die Menschen guten Willens?“ Darauf weiß ich eine gute, unverfängliche Antwort - da muss ich ihr nicht sofort Geld oder sonst was geben: „Da, wo man sie nicht erwartet.“ Stolz grinse ich und denke, damit sei die Frau zufrieden. Aber die gibt nicht so schnell auf: “Das ist zwar eine gute Antwort, aber, sagen Sie mal, würden Sie sich zu diesen Menschen zählen?“ Eine unangenehme Frage, mit dem Beigeschmack ‚Aber sagen Sie mal, würden Sie mir auch etwas Geld geben?’. Also gebe ich mich gelangweilt. „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“, sagt sie, und schüttelt abwägend den Kopf. „Wieso nur vielleicht?“ Also, so langsam wird mir das hier zu dumm. „Weil es immer auch auf die Situation ankommt.“ So geht das Gespräch eine Weile hin und her und ich fühle mich immer unwohler. Mittlerweile bin ich genervt. „Lesen Sie denn auch in der Bibel?“ „Ja, manchmal.“ Nachdem die Fremde sich darüber auslässt, dass das ja selten sei und wann und was ich denn zuletzt gelesen habe, wird es mir zu bunt. „Ich weiß es nicht mehr“ blocke ich entschieden immer wieder ab. Was für eine Religion sie denn habe, will die Alte wissen. Nach kurzem Zögern antworte ich: “Ich bin katholisch. (Punkt)“ Ach, das sei ja so selten, dass Katholiken in der Bibel läsen. Es klingt wie ein Seitenhieb auf meine Religion... Vor allem in diesen schlimmen Zeiten mit dem vielen Unheil und Übel.
Auf meinen Kommentar, an den meisten Dingen seien die Menschen selbst schuld, geht die Pennerin nicht ein, sie fängt an über Satan und das Böse zu dozieren, nennt Bibelstellen und legt sie so seltsam aus, dass sich mir die Nackenhaare sträuben. Also, eine Pennerin kann sich doch nicht so gut in der Bibel auskennen, oder? Langsam kommt mir diese Frau spanisch vor. Ich versuche, die Dozierende durch interessierte, genervte und überlegene Blicke und Einwürfe aus der Fassung zu bringen, aber es klappt nicht. Irgendwann wird es mir zu dumm. Satan und der ganze Kram soll in diesem Moment bleiben, wo er will - man kann es auch übertreiben. An das Ende der Welt, das ihr die Frau gerade weismachen will glaube ich nicht und das will ich auch nicht, da macht man sich doch nur selbst verrückt! „So, ich muss jetzt gehen.“ Die Frau öffnet ihren Mantel, wobei offensichtlich wird, dass sie doch ein Mann ist, um einen Stapel Heftchen aus der Tasche zu nehmen. „Nein, ich will nichts von Ihnen. Vielen Dank.“ Da stößt meine Mutter zu uns. „Nein, wir wollen nichts. Und ich finde es auch nicht in Ordnung, dass sie diese Sachen in einer katholischen Kirche verteilen!“ Der Mann versucht sich herauszureden, er habe doch nichts Falsches gesagt, was er denn getan habe... „Wenn ich das richtig sehe verteilen sie hier Heftchen der Zeugen Jehovas. Und das in der Liebfrauenkirche in Trier! Das ist eine Sauerei, verteilen sie den Mist woanders!“, erregt sich meine Mutter. Gemeinsam, den quengelnden Zeugen Jehovas im Schlepptau, der uns noch an der Tür nachruft, er habe doch nichts Falsches gesagt oder getan, wenn doch sollten wir ihm seinen Fehler nennen, verlassen wir die Kirche überstürzt.
Diese Begegnung hinterlässt bei mir einen bitteren Beigeschmack, den ich auch in den nächsten Stunden noch nicht loswerde und der mir das Einschlafen an diesem Abend noch schwerer macht, als es ohnehin schon ist. Ich dachte immer, ich erkenne solche Leute, ich wäre informiert, aber der Mann hatte mich so sehr abgelenkt, dass ich die Möglichkeit, er sei ein Zeuge Jehovas nicht einmal ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Gerade das erschreckte mich sehr und brachte mich zum Nachdenken. Ich denke, man sollte nicht vergessen, dass auch die Zeugen Jehovas sehr unter Hitler zu leiden hatten – sie wurden, wie die Juden, in KZs umgebracht – und dass sie meist so sehr von ihrem Glauben überzeugt sind, dass sie für ihn sterben würden. Auf der anderen Seite steht jedoch auch, dass es einfach nicht in Ordnung ist, in einem Gotteshaus, das nicht das ihre ist, ihre Schriften zu verteilen und die Menschen so hintenrum in ein scheinbar unverfängliches Gespräch zu verwickeln, dass sich später als ein Vortrag darüber herausstellt, wie schlecht die Welt ist und dass Satan ja überall sei und das Ende nah. Mir war dieser Mann später richtig unheimlich, seine Bemerkungen waren immer nur in eine Richtung gelenkt (Satan und das Böse) und er hat nicht lockergelassen - einer, der uns bis zur Tür nachrennt, was er denn falsch gemacht habe, wenn das doch schon gesagt ist, der muss schon relativ verrückt sein. Oder so sehr von seinem Standpunkt überzeugt, dass es keinen anderen gelten lassen kann. Später, als ich mit einem Bekannten über diese Erfahrung sprach, meinte er:“Was wäre denn, wenn wir in ihrem Königreichssaal Rosenkränze verkaufen würden, die ließen uns noch nicht mal rein!“ Und genau das ist der springende Punkt, glaube ich - sie versuchen überall und ohne Rücksicht auf andere bzw. Andersgläubige zu nehmen, Propaganda für sich zu machen, aber selber sind sie (auf ihre eigene Art) stockkonservativ und bestehen auf die alleinige Richtigkeit ihrer Meinung. Als Abschluss: Lasst euch bloß nicht von Zeugen Jehovas in ein Gespräch verwickeln, sie lassen euch nicht freiwillig wieder gehen und danach fühlt ihr euch total beschissen (sorry, ich weiß wirklich kein anderes Wort dafür).
Autorin / Autor: firstmary - Stand: 6. Dezember 2005