Der Schein trügt - Teil 5

von Ann-Katrin Kinzl

4. Kapitel

MacPhee starrte gedankenverloren auf die gepflegte Fassade der alten Stadtvilla. Hier lebte also die Familie Westham/Brendt.
„Recht protzig, finden Sie nicht, Detective?“, murmelte Edward Davis fragend in Richtung MacPhee.
Doch MacPhee hörte nicht zu. Er war in Gedanken ganz bei Evan Brendt. Stillschweigend fragte er sich insgeheim, ob er sich nicht doch in dem jungen Mann getäuscht hatte. War Brendt tatsächlich ein Mörder? MacPhees Gedanken überschlugen sich, während Edward Davis munter vor sich hin plapperte.
Davis ging MacPhee gehörig auf die Nerven.
Missmutig stapfte MacPhee zur Eingangstür. Er betätigte den eisernen Türklopfer und nur zwei Minuten später öffnete eine rundliche Frau in Dienstmädchenuniform die Türe. Geringschätzig musterte sie den fremden Besuch.
„Der Hund muss draußen bleiben.“ Mitleidig band MacPhee seinen treuen Gefährten an der Eingangstür an und betrat die Villa. Das Dienstmädchen machte sich auf den Weg, den Herrschaften den ungewohnten Besuch zu melden. Sie bot weder Tee noch einen Sitzplatz an und so standen MacPhee und Davis unbeholfen in der Eingangshalle. Dadurch hatten sie aber auch genügend Zeit, sich in aller Ruhe umzusehen. MacPhee rümpfte die Nase. Alles war so englisch an diesem Haus. Die Jagdtrophäen, die blank geputzten Gewehre und Säbel an den Wänden, der muffige Geruch nach alten Reliquien… Unverhohlen musterte das Detektivduo den Raum, als sie plötzlich vor dem lauten Schlag einer Wanduhr zurück zuckten.
„Ach du liebe Güte, haben Sie sich erschreckt?“
Eine junge Frau war unbemerkt die Haupttreppe herunter gelaufen und begrüßte MacPhee und Davis nun mit einem bezaubernden Lächeln.
„Sie beide müssen von Scotland Yard sein. Ich bin Rosalie Brendt,… Evans Frau.“
Bei dem Namen ihres Gatten stockte Rosalie und ihr Gesicht verzog sich zu einem gequälten Lächeln.
„Bitte setzen Sie sich doch. Bestimmt hatten Sie einen harten Tag. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht einen Brandy?“ Auf MacPhees Nicken ging sie anmutig hinaus und kehrte wenig später mit einem kleinen Tablett, mit Gebäck und zwei Gläsern zurück. Sie gab jedem der Männer ein Glas und reichte den Brandy herum. Es entwickelte sich ein beunruhigendes Schweigen, das schließlich von Edward Davis gebrochen wurde:
„Vielen Dank, Mrs. Brendt. Ich weiß die Situation ist nicht leicht für Sie. Wir würden trotzdem gerne etwas mehr über die Umstände wissen, durch die Ihr Mann am Tatort war.“
„Detective, Sie müssen mir glauben! Wenn ich irgendetwas wüsste, würde ich es Ihnen sagen. Evan ist mein Ein und Alles. Ich würde alles tun, um ihm zu helfen. Nur… er war in letzter Zeit so anders. Verschlossen und zurückgezogen, nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Er war sehr geheimnisvoll, schloss alle Schubladen seines Schreibtisches ab und verriegelte sein Arbeitszimmer. Als ob er etwas zu verbergen hätte…
Aber er muss unschuldig sein. Zu einem Mord wäre Evan niemals in der Lage gewesen. Er hat noch nie in seinem Leben ein Gewehr oder Schwert in der Hand gehabt und jedes Jahr sucht er nach einer neuen Entschuldigung, um nur nicht mit meinem Vater auf die Jagd zu gehen. Und dieser Mensch soll eine, ihm Unbekannte ermordet haben? Niemals!“
Rosalie schüttelte energisch den Kopf, doch schien sie von ihren Worten selbst nicht in vollem Maße überzeugt zu sein.
Plötzlich ertönte von draußen ein ohrenbetäubender Lärm, der alle Anwesenden aufschrecken ließ. Überrascht erhob sich Rosalie, um die Quelle der Störung ausfindig zu machen. MacPhee und Davis folgten ihr in einiger Entfernung. Schließlich blieb Rosalie abrupt an der Eingangstür stehen.
„Oh nein, Mitzi, mein armes kleines Schätzchen. Was hat denn dieser böse, dicke Köter mit dir gemacht, du siehst ja ganz zerrupft aus. Pfui, du dreckige Kanaille! Geh weg, du Flohschleuder!“
Eine opulente Dame in einem eleganten schwarzen Abendkleid stand vor dem bellenden und um sich schnappenden Mr. Watson und schaute ihn tadelnd an. Auf ihrem Arm saß eine grauweiß gescheckte Katze, die sich zitternd vor Angst die Pfoten leckte und panisch umherschaute.
„Gehört dieses überfressene Vieh etwa Ihnen?“, fragte sie an MacPhee gewandt.
„Mutter, bitte!“, murmelte Rosalie.
„Ja gnädige Frau, dieses 'Vieh', wie Sie soeben sagten, gehört mir. Sie gestatten mir, mich Ihnen vorzustellen: Orson MacPhee, der Detective im Mordfall Hemmingway. Wissen Sie eigentlich, wen Sie gerade so rüde beleidigt haben? Einen astreinen Spürhund von Scotland Yard!“
„Machen Sie sich über mich lustig? Schande genug, dass dieser Versager von Schwiegersohn es mal wieder geschafft hat, unsere Familienehre in den Schmutz zu ziehen. Aber ich war ja schon immer der Meinung, dass du etwas Besseres verdient hast als diesen Taugenichts, der sich skrupellos in unsere Familie eingeschlichen hat, mein liebes Kind. Und nun stecken wir in der Bredouille. Was werden die anderen nur dazu sagen… Das Einzige, das jetzt noch hilft, ist eine Scheidung. Wie bedauerlich, dass es soweit kommen musste. Hättet ihr schon früher auf mich gehört, dann…“
Ein grauhaariger Herr erschien in eben diesem Moment hinter Mrs. Westham und blickte verständnislos in die Runde.
„…hätten wir uns das ganze Desaster ersparen können“, führte er den Satz seiner Frau zu Ende. „Bitte Susan, wir kennen diesen Satz schon zu Genüge. Guten Tag, Detectives. Wie geht es meinem Schwiegersohn?“
Susan schaute naserümpfend zu ihrem Gatten und ging schließlich beleidigt ins Haus.
„Ich würde sagen, es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Sie wissen ja, wie es mit unseren städtischen Gefängnissen steht. Es war ja in den letzten Monaten viel darüber in den Zeitungen zu lesen“, antwortete MacPhee wahrheitsgemäß.
Richard Westham wurde blass und aus seinen trüben Augen blickte Hoffnungslosigkeit. Seinem geliebten Schwiegersohn in dieser Situation nicht im Geringsten helfen zu können, stimmte ihn mutlos und traurig. Alles hatte er versucht, um Evan frei zu kaufen, doch nichts hatte geholfen – weder sein Einfluss noch sein Geld.
Richard hatte sein Leben lang hart für jede Annehmlichkeit des Lebens gekämpft und war dennoch stets ein bescheidener und liebenswürdiger Mann geblieben. Seine einzige Tochter mit einem so grundanständigen, jungen Mann wie Evan zu verheiraten, hatte ihn, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, sehr gefreut. Er hatte sich nie über so banale Dinge wie Abstammung oder Vermögen Sorgen gemacht, lieber hatte er sich um jene gekümmert, die nicht das Glück hatten, solch ein Leben wie er zu führen. Richard war nun, nach vielen Ehejahren immun gegen die Hochnäsigkeit und Arroganz seiner Frau. Er überhörte einfach ihren Hang zum Snobismus und spielte ihr mehr als einmal vor, dass seine Hörfähigkeit abnähme.
„Kann ich denn wirklich gar nichts tun, um Evan zu helfen?“, erkundigte er sich nun bei Orson MacPhee
„Ich fürchte nicht, Sir. Doch vergessen Sie nicht, bei all der Düsternis um Sie herum, gibt es doch noch Licht am Ende des Korridors.“
Da es bereits dämmerte und kalt zu werden begann, begaben sich MacPhee, Rosalie, Mr. Westham und Davis in den Salon, wo sie sich am Kamin aufwärmten. MacPhee erzählte Evans Frau und seinem Schwiegervater von dem geheimnisvollen Brief, den Evan kurz vor dem Mord an Jane Hemmingway erhalten hatte.
Rosalie war kaum fähig zu sprechen und dennoch schien etwas auf ihr zu lasten.
„Ich wusste es… Mein Gott Evan, wo bist du da nur hineingeraten… Sie müssen wissen Mr. MacPhee, ich habe ein sehr merkwürdiges Telefonat zwischen meinem Mann und einem Unbekannten belauscht. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen, doch es blieb mir doch keine andere Wahl. Er war so seltsam in letzter Zeit, also wurde ich neugierig und forschte nach. Er telefonierte gerade. Ich weiß nicht, mit wem er redete, er flüsterte und so bekam ich leider nur wenige Wortfetzen mit. Er sagte etwas von 'Gerechtigkeit' und 'den Mörder seiner Mutter vor Gericht bringen…' Mr. MacPhee, das muss doch bedeuten, dass er unschuldig ist. Er hat nichts getan, er wollte die Mörderin seiner Mutter ins Gefängnis bringen, mehr nicht.“
„Wir können darauf leider keine Schlüsse zulassen, die die Unschuld Ihres Mannes eindeutig zulassen würden, tut mir sehr leid. Wir werden morgen mit Paul Fenley, dem Schreiber des Briefes reden, es könnte gut sein, dass er der ominöse Gesprächspartner Ihres Mannes war.“
Fünf Minuten später wandten sich die beiden Polizisten zum Gehen und beschlossen, sich am nächsten Morgen intensiv mit Paul Fenley zu befassen.

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 2. Juli 2010