Das FeE-Projekt

Wettbewerbsbeitrag von Antonia Dorn, 25 Jahre

Die Forschungsstation im ewigen Eis (FeE) war abgeschirmt von Menschenaugen errichtet worden, denn das, was dort untersucht wurde, war ein großes Geheimnis. Die Station war einzig und allein ins Leben gerufen worden, um außerirdisches Leben zu studieren, das auf dem Mars entdeckt worden war. Damit wären die meisten Menschen schlichtweg überfordert gewesen, oder hätten (noch schlimmer) den Glauben an die erklärbare Wissenschaft verloren. Daher existierte das FeE-Projekt versteckt vor der Welt, mitten in der klirrenden Kälte des Nordpols.

Dort war eine Vielzahl von galaktischen Wesen inspiziert, getestet, seziert und erforscht worden. Doch in den letzten zwanzig Jahren war die Station in Vergessenheit geraten. Es hatte auf dem Mars keine Sichtungen von außergewöhnlichen Kreaturen mehr gegeben, oder die Forscher hatten es schlichtweg geschafft, alle auszurotten. Das „FeE-Projekt“ war eingestellt worden.
Und jetzt, fast zwei Dekaden später, hatte Maya, eine erfahrene Wissenschaftlerin im Bereich Astronomie und Galaktisches, eine Nachricht erhalten, dass das Projekt wieder ins Leben gerufen worden sei. Auf ihre alten Tage war das wirklich eine Überraschung. Sie hatte ihre Arbeit über unentdecktes Leben in der Milchstraße liegengelassen, ihr Mittagessen auf dem Schreibtisch vergessen und war sofort überstürzt aufgebrochen.

Jetzt stand Maya neben ihren Kollegen, dem amerikanischen Forscher Gerald und Dr. Yung aus Japan, und betrachtete leicht skeptisch die Kreatur, welche sie in Ermangelung eines besseren Namens nur Projekt „Nummer 74“ nannten.

Das verwunderliche an Nummer 74 war, dass dieses galaktische Wesen das erste war, welches mehr einem Menschen glich als einem Tier. Und zwar so sehr, dass es Maya zuerst unmoralisch, ja geradezu schändlich erschienen war, 74 zu untersuchen. Der Außerirdische hatte nämlich lange Arme und Beine, und auch sonst glich die Anatomie der eines Menschen. Doch Nummer 74 wies einige entscheidende Unterschiede zur menschlichen Spezies auf, die ihn unweigerlich zu etwas Außergewöhnlichem machten.

Der Augenscheinlichste davon war wohl, dass Nummer 74 durchsichtig war. Die Forscher konnten durch ihn hindurchgucken, wie durch Glas. Einzig dank einer dünnen Konturlinie konnte man erahnen, dass sich wirklich eine Kreatur vor ihnen im Untersuchungskasten befand.

Der zweite Unterschied war, dass Nummer 74 offensichtlich nicht sprechen konnte: Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, erklang nur ein schwaches Pfeifen. Und drittens wog der Außerirdische nicht mehr als eine Feder.

„Das war so laut, das hätte selbst meine neunzigjährige Großmutter gehört!“, sagte Gerald und deutete aufgebracht nach draußen. Schon seit über einer Woche tobte ein heftiger Schneesturm um die dünnen Wände der Forschungsstation und Gerald war davon überzeugt, im Sturm Geräusche zu hören. Einmal war er sich sogar sicher gewesen, ein lautes Heulen gehört zu haben.

„Gerald, du siehst schon wieder Gespenster“, bemerkte Dr. Yung und lachte etwas herablassend.
„Mach dich ruhig über mich lustig. Du wirst schon sehen. Jesus, da draußen ist etwas!“, Gerald hob drohend den Zeigefinger.

Mit mildem Interesse hörte Maya den beiden bei ihrem Gezanke zu. Sie fand Geralds Gedanken reichlich übertrieben, wollte sich aber nicht in den Streit ihrer beiden Kollegen einmischen.
Doch während sie den in sich eingesunkenen Außerirdischen betrachtete und sich Gerald weiter aufregte, kam der Sturm schlagartig zum Erliegen und es wurde auf einmal mucksmäuschenstill.
Ein leises Knirschen ertönte draußen im Schnee. Die Wissenschaftler erstarrten in ihren Bewegungen und Maya spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.
Und dann, als die Spannung fast nicht mehr auszuhalten war, wurde mit einem lauten Bersten die Tür aus ihren Angeln gerissen. Die Forscher waren zu Salzsäulen geworden, nur Dr. Yung ließ tatsächlich ein Reagenzglas fallen, welches er in den Händen gehalten hatte. Wären sie das Außergewöhnliche nicht gewohnt gewesen, wäre der ein oder andere wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. In dem gleißenden Licht, das durch den freigelegten Türrahmen fiel, stand ein Mann- oder jedenfalls etwas, das einem Menschenmann ähnelte.

Das Wesen sah aus wie Nummer 74: Es war ebenso durchscheinend, wie der Außerirdische. Doch im Gegensatz zu ihm war es riesig, die durchsichtige Körpermasse überragte die Forscher um mehrere Zentimeter. Seine hellblauen Augen starrten die Wissenschaftler zornig an, der Blick ließ Maya das Blut in den Adern gefrieren. Der durchsichtige Außerirdische öffnete den Mund, doch auch aus seinem Mund kam nur unverständliches Pfeifen.

Bevor Maya ganz verstanden hatte, was sie dort vor sich hatte, spürte sie eine Veränderung im Raum: Es schien Wind aufzukommen. Die Kreatur hatte den Mund noch immer weit geöffnet, und das Pfeifen wurde zu einem kräftigen Blasen. Wichtige Forschungspapiere wurden in die Luft gewirbelt, dann fiel ein Stuhl um, als nächstes krachte ein Bild von der Wand. Mayas Kittel schlug ihr ins Gesicht, in dem Chaos konnte sie ihre Kollegen nicht mehr ausmachen. Und all das schien aus dem Mund, dem Atem, des durchsichtigen Mannes zu kommen.
Schließlich wurde der Sturm so stark, dass Maya nichts mehr sehen konnte, sie verlor sich in einem Strudel von Schnee, Papieren und Möbeln. Es erschien ihr, wie eine Ewigkeit, bis der Wind zum Erliegen kam, und alle Gegenstände aus der Luft mit einem Mal zu Boden krachten. Im Schutt und Dreck dessen, was vor kurzer Zeit noch die Forschungsstation gewesen war, rieb sich Maya die Augen und suchte nach den anderen Wissenschaftlern. Erst viel später entdeckten sie, dass Nummer 74 mit dem Windmann spurlos verschwunden war.

Keiner der FeE-Wissenschaftler sprach jemals darüber, was an diesem Tag geschehen war. Sie konnten es fast selbst nicht glauben, und es gab Tage, an denen sich Maya sicher war, alles nur geträumt zu haben.


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Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

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Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Antonia Dorne