„Ein weiser Professor sagte mir einst, dass Physik das Gegenteil von Philosophie sei“, sagte Spsy und sah Loretta tief in ihre veilchenblauen Augen, „Aber desto mehr wir erforscht haben, desto mehr wir geleistet haben, umso klarer wurde mir, dass es auf dasselbe hinausläuft. Als wir nach dem Ursprung allen Lebens gesucht haben, haben wir philosophiert. Und als wir die Formeln und Gleichungen niederschrieben, haben wir nach dem Sinn des Lebens gesucht.“ „Spsy…“, sprach Loretta halb flehend. Sie legte ihre blaue, warme Hand auf die Wange ihrer Partnerin, die sich sofort in die Berührung lehnte. „Was ich damit sagen will“, führte Spsy fort, „Verliere bitte niemals den Sinn des Forschens aus den Augen. Es ist der Wissensdrang, der Wunsch nach Antworten, der unsere Arbeit ausmacht. Nicht die Zahlen und Zeichen, die wir auf das Papier bringen. Ich will, dass du dies niemals vergisst, auch wenn-“ „Hör auf. Hör auf, bitte. Ich will nicht, dass du so redest.“ Loretta erhob sich von der weißen Bank und schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen. Sie ging im Raum auf und ab und es schien, als würde sie einen emotionalen Kampf in ihrem Innern führen. Spsy sah sie an. Ihre blaue Haut, die langen violetten Haare und ihre veilchenblauen Augen ohne Pupillen. Es waren genau die Augen, die sie damals auf Europa, dem ansehnlichen Mond des Jupiters, an der Akademie für Quantenphysik verzaubert hatten. Loretta war die erste gewesen, die sie als die Person sah, die sie eben war. Die erste, der es egal war, wie sie aussah, dass sie kurze bunte Haare hatte und lockere Kleidung trug, obwohl dies für menschliche Mädchen nicht die Norm war. „Eigentlich lustig“, hatte Spsy damals gedacht, „dass die Menschheit bereits mit über 200 Spezies ihre Planeten teilt, sich untereinander jedoch immer noch diskriminiert.“ Damals, als Spsy zusammen mit Loretta die Akademie mit Bestleistung abgeschlossen hatte, ahnte sie noch nicht, wie bedeutend ihre Arbeit einst werden würde. Heute war sie hier. Zusammen mit Loretta auf einem Forschungsschiff mit Anti-Materie-Antrieb irgendwo in der Nähe von Sagittarius A, um die letzten Werte zur Vervollständigung der Quantengravitations-Theorie aufzunehmen. Oder, wie alle der Vereinigten Humanoiden Völkerschaft es beschreiben würden, um die Weltformel zu finden. Und vielleicht war es das letzte Mal, dass sie Loretta sah, oder überhaupt irgendetwas sah. Vielleicht würde sie ihre gesamte Existenz heute für die Forschung opfern. Auch wenn Loretta es nicht wahrhaben wollte, auch, wenn sie am liebsten selbst gegangen wäre. „Loretta“, appellierte sie nun sanft an ihre Partnerin. „Du kannst die Tür jetzt schließen und die Luke öffnen. Ich bin bereit.“ Loretta blickte Spsy mit glasigen Augen an. Für einen Moment schien es, als würde ihr Blick „Geh nicht“ schreien. Nach kurzem Zögern trat sie jedoch zurück, doch bevor sie die Tür schloss, rief sie Spsy mit zitternder, aber bestimmter Stimme zu: „Du kommst zurück! Du fliegst zu diesem schwarzen Loch, nimmst alle Messwerte und dann kommst du zu mir zurück!“ Dann schloss sie die Tür mittels des Mikrochips in ihrem Kopf mit einem einzigen Gedanken, während Spsy den hochsensiblen Quantenfeldmesser nahm, den sie und Loretta zusammen entwickelt hatten. Dann aktivierte sie die künstliche Atmosphäre rund um ihren Raumanzug herum. Das Letzte, was sie sah, war Loretta, deren Lippen durch die Tür hindurch Worte bildeten, die Spsy nicht verstand. Dann wurde der Druck abgelassen und die Luke öffnete sich.
„Zentrale an Spsy, hörst du mich?“, hallte es über Funk als Spsy sich Sagittarius A immer weiter näherte. „Spsy an Zentrale, klar und deutlich.“ Sie hörte, wie Loretta über Funk aufatmete. „Quantenfeldmesser wird eingeschaltet“, meldete Spsy und blicke dem schwarzen Loch entgegen. Es war wunderschön. Die leuchtende Akkretionsscheibe und der tiefschwarze Ereignishorizont, dessen Geheimnisse ihre Messwerte nun enthüllen würden, waren einfach atemberaubend. Plötzlich vernahm sie ein grünes Leuchten, das vom Bildschirm des Quantenmessers ausging. „Ich empfange Messwerte!“, rief sie mit einem Mal aus. Sie sah erneut auf das Messgerät und was sie sah, hätte sie sich niemals erträumen lassen können. Das veränderte einfach alles. Vor lauter Euphorie weinte und lachte sie zugleich. Über Funk hörte sie, dass Loretta es ihr gleichtat. Doch plötzlich spürte sie, wie ihr Antrieb dem gravitativen Sog des Loches nicht mehr standhalten konnte. Anscheinend war ihnen ein Fehler in ihren Berechnungen für die Mission unterlaufen. Spsy begann, sich immer schneller um das Schwarze Loch herum zu drehen, aufgrund der hohen Gravitationsunterschiede wurden ihre Füße bleischwer und sie sah plötzlich ihren eigenen Hinterkopf. Irgendetwas war über Funk zu hören, doch die Worte waren so langgezogen, dass Spsy sie nicht verstand. Sie dachte an nichts und alles zugleich. Dann war es vorbei.
Spsy schnappte nach Luft und schlug die Augen auf. Sofort wurde sie von grellen weißen Wänden geblendet. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte einige Male, bis ihre Augen sich einigermaßen an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Verwirrt und verloren richtete Spsy sich auf und sah sich um. Sie erkannte das Untersuchungslabor ihres Forschungsschiffes. Auf einem Display leuchtete neben einer Vielzahl von Formeln das Datum auf. Es war der 06.01.2809 nach irdischer Zeitrechnung. Mit einem Mal wusste Spsy, wo und wann sie war. Sie war gestern, obwohl gerade noch morgen war.