Ich knalle die Tür hinter mir zu. Ich will hier weg! Zum vierten Mal diese Woche überlege ich, welche Sachen ich einpacke, falls ich mich aus dem Staub mache. Ich höre, wie Steve, den ich eigentlich Dad nennen müsste, die Stühle wieder hinstellt, die ich beim Rausrennen umgeworfen habe und hole mir aus meinem Kleiderschrank, indem ich Nervennahrung bunkere, meine Lieblingsschokolade heraus. Vorsichtig lausche ich an der Tür. Steve muss den Fernseher angeschaltet haben. Ich springe auf mein Bett und starre die Decke an. Mein Blick fällt auf die Karte, die Steve mir neulich, vom Flohmarkt mitgebracht hat und seitdem an meinem Bett hängt. Keine Ahnung, was ihn da geritten hat, mich mal zu beschenken. Wie er mich anschaute, als er mir die Karte gab, habe ich nie deuten können. Ob er mich doch liebt, weil er an mich dachte und mir etwas mitbrachte?
Es ist so schwer, mich immer wieder davon zu überzeugen, dass es gut war, dass ich geboren worden bin, wenn es mir nie jemand anderes sagt. Ich reiße die Karte von der Wand. Heute hat er zu viel gesagt. Ich schließe die Augen, weil ich die Tränen nicht länger zurückhalten kann. Ich hatte mir vor Jahren geschworen, nie wieder seinetwegen zu weinen. Doch das war hier und jetzt zu schwer.
Mit geschlossenen Augen sehe ich einen roten Lichtstrahl. Ich öffne sie verwundert, und traue ihnen nicht. Die Karte, die ich zwischen meinen Händen halte, beginnt zu leuchten. Die Ränder beginnen zu strahlen. Ich bin wie gelähmt und falle. Eigenartigerweise habe ich keine Angst. Um mich herum sehe ich Leere. Keine Farbe. Sie ist nicht schwarz, oder grau. Sie ist einfach Leere. Wie ein riesiges Universum. Hier ist es farblos.
Unter mir sehe ich Gestein, auf das ich zuzufallen drohe. Der Boden kommt immer näher, aber ich habe keine Angst. Es ist, als hätte ich das schon erlebt. Als wäre es eine Erinnerung und doch weiß ich, dass ich das alles zum ersten Mal erfahre. Ich lande auf meinen Füßen, als wäre ich eben nur ein paar Zentimeter hochgesprungen und nicht aus tausend Metern Höhe hierher gefallen. Ich dreh mich einmal um meine Achse. Niemand scheint hier zu sein. Ich bin alleine. Aber das ist okay, das kenne ich ja schon. Nach einigen Minuten des Stillstands, beschließe ich, mich auf den Weg nach... was auch immer zu machen. Ich laufe auf einem Brocken und höre ein dumpfes Geräusch hinter mir. Wie ein Stein, der runtergefallen ist. Ich drehe mich blitzschnell um, und erkenne eine Gestalt. Nach der Statur eher ein Junge. Muskulös gebaut, sehr groß, bestimmt zwei Köpfe größer als ich, und kurze strubblige Haare. Er kommt näher. Schlagartig geht mein Puls in die Höhe. Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Wegrennen? Aber wohin? Ich kann mich hier schlecht verstecken und er sieht aus, als könnte er gut mit einem Gepard mithalten, ohne dass eins seiner Haare einen Knick bekommt.
Ihn angreifen? Aber womit?
Er steht nur noch ein paar Schritte entfernt. Ich spüre, wie er mich scannt, von meinen schwarzen Sneakers über meine dunkelblaue Jeans bis zu meinen roten Locken, die über mein schulterfreies Tank Top fallen.
„Hey“, sagt er mit einer Lockerheit in seiner Stimme, und vergräbt währenddessen die Hände in den Hosentaschen.
Meine Knie sind weich, mein Herz rast. Was will der von mir? Ich will mir nichts anmerken lassen, also antworte ich ebenfalls mit einem schlichten: „Hey.“
Er lächelt. „Bist du schon lange hier, Angsthase?“
Na hör mal, was soll das denn? Er denkt, jetzt er ist der aller Größte, oder was? „Ne, noch nicht, Lackaffe. Du?“
Sein Grinsen wird breiter. „Ach, weißt du, ich wollte von zuhause ausbrechen und da dachte ich, ein paar Monate auf einem Planeten im Weltall so ganz alleine, wäre genau das Richtige. Und dann tauchst du hier auf“.
Wir sind auf einem Planeten. Ich bin auf einem Planeten im Weltall. Ich will verbergen, dass ich davon erst gerade erfahren habe. „Och, das tut mir jetzt leid, habe ich deine Selbstfindungsreise gestört?“ Ich kann seine Grübchen sehen.
„Soll ich dich herumführen?“, fragt er, ohne auf meine Gemeinheiten einzugehen.
Ich will verneinen, aber allein will ich hier auch nicht sein.
„Wo kommst du eigentlich her?“ fragt er mich und ist mir ein paar Schritte voraus.
„Naja von der Erde halt.“
Er dreht sich um. „Ach, echt? Ich dachte, du kommst vom Mond“.
„Ja, okay, soll ich dir meine Koordinaten geben, wo mein Haus wohnt oder was?“, frage ich genervt.
„Nein Angsthase, welches Land? Welche Stadt?“
„Großbritannien, Wales.“
Er pfeift anerkennend. „Ich wohn auch in Großbritannien.“
Na super, du Lackaffe. „Hey können wir kurz eine Pause machen?“ Ich möchte ein bisschen ins Weltall gucken.
„Schon aus der Puste, Angsthase?“
Ich antworte darauf nicht, sondern lege mich hin.
Er tut es mir nach.
„Schön, oder?“ frage ich. Wir gucken die anderen Planeten an.
„Ja, wunderschön“.
„Sag mal, warum hältst du es zuhause nicht aus?“
Er überlegt. „Mein Vater hasst mich.“
Ich schlucke. „Das glaub ich nicht, jedes Elternteil liebt sein Kind, nur auf eine andere Weise als man es vielleicht möchte.“
„Ach ja? Das glaub ich nicht. Ein Vater, der einen schlägt… Das ist keine Liebe!“
Er hat recht. Ich würde ihm nur wünschen, dass sein Vater ihn liebt, denn das hat jedes Kind verdient! Auf einmal fängt bei mir alles an zu kribbeln.
Lackaffe scheint es auch zu merken. „Du gehst wieder zurück“ sagt er eiskalt.
„Warum?“
Er schweigt. „Weil dich jemand vermisst, deswegen wirst du wieder zurückgeschickt.“
Ich sehe ihn an, nach ein paar Sekunden des Schweigens. „Ich verspreche, ich werde dich vermissen.“
Er lächelt und zieht mich in seine Umarmung. „Danke, Angsthase, ich bin Steve.“
Ich lächle. „Ich bin Lou“. Wir halten einander fest, und dann bin ich weg.
Ich erwache in meinem Zimmer. Mein Vater sitzt auf meinem Bett und weint. Auf einmal verstehe ich alles. Mein Steve ist Steve. Ich habe eben meinen Vater in jung kennengelernt. Und ich habe ihn sehr gemocht. Vorsichtig stehe ich auf und nehme ihn in den Arm. „Ich bin hier Papa“.
Das bringt ihn noch mehr zum Weinen.
Nach einer Weile traue ich mich zu fragen. „Wie kamst du auf den Namen Lou?“
Papa überlegt. „Ich hatte mal einen Traum. Ich war auf einem anderen Planeten, allein. Irgendwann tauchte ein Mädchen auf, dass Lou hieß. Wir haben uns viel erzählt. Doch irgendwann musste sie wieder nachhause, weil sie vermisst wurde von den Menschen der Erde. Ich saß monatelang dort fest und sie wurde nach einem Tag schon vermisst. Aber als sie nach Hause ging, versprach sie mir, mich zu vermissen. Und das hat sie. Ich durfte nach Hause zurück. Dieser Traum fühlt sich noch immer so echt an. Deshalb habe ich dich Lou genannt. Weil du alles für mich bist“. Er zieht mich an sich, und mir kullern die Tränen aus den Augen. „Mein Schatz, ich hab dich so vermisst, mach das nie wieder.“
Ich kann kaum noch atmen, die Tränen schneiden mir die Luft ab. „Mach ich nicht, Dad, versprochen. Ich hab dich lieb.“
Er schnauft. „Ich hab dich auch lieb, meine Lou“.