Die Fangii fanden mich im Körper meiner Mutter. Zu diesem Zeitpunkt war sie wahrscheinlich schon seit einigen Tagen hirntot gewesen, doch die Lebenserhaltungskapsel, in der sie gefunden wurde, hatte uns beiden zufriedenstellende Dienste geleistet. Zumindest, soweit es die damalige einfältige Menschentechnik schaffen konnte.
Genau so wurde mir die Geschichte meiner Geburt, das Narrativ meiner Existenz, erzählt, als ich anfing, die ersten Wörter zu verstehen, und so wird sie mir und allen anderen der Kolonie heute noch weitergegeben.
Nach mehr als zwanzig Jahren bleibt der Grund, warum sich meine Mutter in besagte Kapsel begab, noch immer ungeklärt. Ob sie gedacht hatte, dass das einzige Richtige, was sie als letzte Überlebende und oberste Befehlshaberin der Mission tun konnte, es war, das Überleben der Menschheit zu retten? Es wenigstens mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen? Ob meine Mutter voller Ehrfurcht und bis zu den Zähnen mit Mut gewappnet in diese kleine, sterile Rettungskapsel eintrat, um ihr erstes und letztes Kind überhaupt zur Welt zu bringen oder ob es doch nur ein Zufall war, dass ich als einziger Mensch die Chance bekommen habe, fort zu existieren, ist eine heikle Angelegenheit. Dazu wird sich vermutlich auch nie eine Antwort finden lassen. Die Theorie, an die ich mich entschlossen habe, zu glauben, steht jedoch fest. Ich werde niemals nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, zu fantasieren, dass meine Mutter eben nicht ihre letzten Atemzüge meinem Überleben gewidmet hatte. Mich selbst damit zu quälen, ob es besser gewesen wäre, die Pandemie auf der Erde und das Massensterben der Menschheit im Weltall nicht überlebt zu haben, kommt überhaupt nicht in Frage. Als einzige Überlebende einer Spezies, die der Rest des Universums für arrogant und in moralischen und ethischen Fragen für rückständig hält, ist es allgemein schwierig genug.
Über den Grund, warum die ganze Menschheit in fünf Jahren von grausamen Krankheiten vollkommen ausgelöscht wurde, weiß man ebenfalls nicht viel. Über das Raumschiff der sogenannten „Letzten Mission“ noch weniger. Die insgesamt dreißig Besatzungsmitglieder des Raumschiffes erstickten wohl an den Folgen der Infektion. Meine Mutter rettete sich als Einzige in eine Rettungskapsel, obwohl noch weitere frei zugänglich gewesen wären. Die Fangii nahmen nach ihrem Eintreffen auf dem Schiff diese Menschenfrau mit den schwachen Lebenszeichen und dem großen Bauch mit. Im Labor ihres Schiffes entdeckten sie, dass sich ein weiteres Leben in diesem verlorenen Körper befand. Sie holten mich raus und legten mich blutig, zerquetscht und weinend neben dem halb erfrorenen Leichnam meiner Mutter hin. „Ich weiß noch ganz genau, wie ich und die anderen Forschenden dieses irdische Neugeborene anstarrten – alle wie erstarrt“, höre ich die Stimme meiner Adoptivmutter in mir klingen. Sie hatte zu meinem Glück ein großzügiges Wissen über meine Spezies im Laufe der Jahre auf ihren Außeneinsätzen im All gesammelt. Eine Geschichte, die sie in alten Aufzeichnungen der Erdzeit gelesen hatte, berichtete über den Tod vieler Säuglinge aufgrund eines radikalen Experimentes, das auf einem absoluten Liebesentzug beruhte. Eine schreckliche Vorahnung übermannte die hochdekorierte Wissenschaftlerin, sodass sie instinktiv das verwaiste Menschenbaby in ihre Arme nahm. Als dieses aufhörte zu weinen und ebenfalls instinktiv nach einer der weißen Haarsträhnen, die seiner Retterin ins Gesicht hingen, griff, „entstand unsere bis heute unzertrennliche Bindung“, höre ich Iijla in meinem Kopf die Vergangenheit fertig erzählen.
Ich vermisse sie und auch wenn ich weiß, dass die Familien meiner ganzen Mannschaft ebenfalls tausende Lichtjahre von uns entfernt sind, habe ich den Eindruck, dass der Schmerz, der diese ungreifbare Distanz zwischen unseren Standorten verursacht, bei mir am stärksten von allen ist. Das liegt wahrscheinlich an meiner Biologie, denn diejenigen, die ihren einzigen Stern die Sonne nennen, sind weich und voller widersprüchlicher Gefühle. Das ist ein Vorurteil, an das fast alle Fangii mit Überzeugung glauben. Davon lasse ich mich aber bewusst nicht unterkriegen. Ich bin ein Mensch und finde nichts Falsches daran. Ich bin die erste menschliche Kommandantin einer Fangii Forschungsmission und finde ebenfalls nichts Falsches daran. Ich bin für ein monströses Schiff und seine Crew von zweihundertfünfzig Mitforschenden verantwortlich. Auch daran finde ich nichts Falsches. Was ich jedoch für falsch halte, sind Hass und Vorurteile. So sehr es auch in meinem Innern schmerzt, habe ich gelernt, dass sich sogar eine hochintellektuelle und entwickelte Spezies wie die Fangii von diesem Befall nicht retten können. Aus diesem Grund ist diese Expedition so wichtig für mich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir einen bewohnten Planeten antreffen, über den unsere Sonden im Vorhinein jedoch nicht das Geringste herausfinden konnten. Wir fliegen mit Lichtgeschwindigkeit auf besagte uns noch unbekannte Sandkugel zu und mein Herz pocht vor Aufregung in meiner Brust.
Als Kommandantin und oberste Befehlshaberin werde ich entschlossen dafür sorgen, dass alle Lebensformen, die mit meinem Forschungsschiff entdeckt werden, mit dem Respekt und der Anerkennung behandelt werden, die sie verdienen. Es ist nämlich alles andere als selbstverständlich, geboren zu werden. Das Leben mag für einige gequälte Geister ein Fluch sein, doch ich glaube fest daran, dass es für die allermeisten bewussten Existenzen im Universum als Geschenk wahrgenommen wird. Etliche Zufälle müssen am richtigen Ort zur richtigen Zeit ihren Ablauf nehmen, um es zu erschaffen, sodass alle Bewusstseine des Alls wahrhaftige Wunder sein müssen. Als solche werde ich alle lieben und akzeptieren, so wie Iijla mich eines Tages zu lieben und akzeptieren lernte. Dies mag eine bedeutsame Forschung für das ganze Universum sein, doch für mich selbst ist es eine noch wichtigere Mission der Gleichberechtigung.