T minus 1:05:05 | Hannah
Der Anzug ist viel bequemer als sonst! Sie hatte ihn zuvor etliche Male anprobiert und sich geärgert, dass man ausgerechnet jetzt, wo sie endlich am Ziel war, die Garderobe neu sortierte. Die alten Raumanzüge waren Teil des Space-Shuttle-Programms in den 80er-Jahren und damit auch reif für das Museum, aber die neuen – die Bio-Suits – gefielen ihr so gar nicht. Sie blieb Fan der Extravehicular Mobility Unit – immerhin trug sie eine selbstgebastelte EMU in ihrer Kindheit fast jeden Tag. Vermutlich war heute nur das Adrenalin daran schuld, dass sich der Anzug perfekt anfühlte.
T minus 0:55:03 | Matthias
Zwischen den ganzen Pressefotografinnen und Moderatoren eingequetscht bekam er kaum noch Luft. Alle warteten vor dem großen Rolltor. Er musste es ihr sagen! Er musste Hannah sagen, dass er sie angelogen hatte. Und das viel zu lang. Aber was sollte er auch tun – er war nicht darauf gefasst gewesen, dass Hannah seine Notlüge so verinnerlichen würde. Schon am nächsten Tag musste er mit ihr ins Planetarium: Kallisto, Leda, S/2010 J 1 und die Milchstraße zogen vorbei, bis sie plötzlich ganz laut „Da ist sie!“ rief und ihr kleines Fingerchen dabei auf die projizierte Andromedagalaxie deutete. Der Vorführer, ein alter Mann mit weißen langen Haaren und dichtem Bart, lächelte wohlwollend und erklärte, dass an klaren Novemberabenden der große Andromedanebel sogar mit einem normalen Feldstecher zu sehen sei.
T minus 00:45:32 | Hannah
Der Blick in den Spiegel fühlte sich unwirklich an. Sie war nicht mehr die Fünfjährige, mit einer Styroporhalbkugel auf dem Kopf, alten Gartenschläuchen, die aus einem Schuhkarton auf ihrem Rücken ragen und selbstgebastelten NASA-Emblem auf der Brust. Sie war jetzt eine Astronautin, die erste Astronautin mit neuartigem Bio-Suit, gefertigt aus Latex und Nanokunststoffplatten mit einem handtaschengroßen Rucksack, in den alles passt, was nötig war: Sauerstoff, Abluft und Kommunikationssysteme. Ein Techniker wuselte um sie herum, schob einen Schlauch in ihren Ärmel und bläst kalte Luft in den Anzug – eine letzte Dichtheitsprüfung. Wenn der Suit in 10 Minuten keine Luft ließe, würde es losgehen.
T minus 00:44:20 | Matthias
Hannah hatte ihm erklärt, wie er den Visitor-Pass bekommt. Er wollte jedoch draußen bei den Presseleuten warten, um die Reaktionen der Leute mitzubekommen. Er wollte jubeln und nicht als Angehöriger bejubelt werden. Aber das Wissen um die Lüge brannte zwischen seiner Stirn, dass er hier draußen nicht mehr aushielt. Er lief zum Empfang fischte Personalausweis und Vollmacht aus seinem Portemonnaie und hängte sich das Schlüsselband mit dem V-Ausweis um. Dann spurtete er zu Ebene 7.5 – er hatte noch Zeit.
T minus 00:43:12 | Hannah
Die Sicherheitsbestimmung BS-D-V3.8 besagt, dass während der Dichtheitsprüfung des Bio-Suits immer ein Techniker anwesend sein muss. Einerseits war es beruhigend zu wissen, dass der Anzug keine Materialermüdung aufwies, andererseits stand man während des Procedere von BS-D-V3.8 immer 10 Minuten lang still neben besagtem Techniker und führte angestrengt Small-Talk über das Wetter. Doch dies wurde in der Besprechung vor drei Stunden zur Genüge besprochen, sodass außer dem Zischen des Kompressors heute eine angespannte Stille herrschte, bis der Blick des Technikers auf die Postkarte aus dem Planetarium fiel, die Hannah neben ihren Spiegel geklebt hatte.
„Ah Andromeda,“ nickte der Techniker anerkennend.
„Ja, mein Vater und ich haben unzählige Male mit dem Fernglas am Nachthimmel gesucht. Manchmal hatten wir Glück und man konnte die Galaxie sehen.“
„Das klingt toll, so richtig nach einem Vater-Tochter-Nerd-Gespann.“
„Das war es – wir hatten in meiner Pubertät so unsere Differenzen. Aber wenn wir wussten, dass die Nacht klar werden würde, dann standen wir manchmal wortlos nebeneinander und guckten in den Nachthimmel, selbst wenn wir uns gestritten haben.“
„Das klingt großartig.“
„Selbst im größten Streit, wenn uns die Worte fehlten, guckten wir Andromeda“, fuhr Hannah mit einem leichten Lächeln fort.
„Andromeda gucken?“
„Ja, so haben wir es genannt, wenn alles andere scheiterte, wenn wir uns hassten, gingen wir hinaus, stellten uns unter den Sternenhimmel, und da war sie – die Andromeda-Galaxie – eine Erinnerung daran, wie klein unsere Probleme eigentlich waren und dass wir uns haben.“
Hannah hatte plötzlich eine Träne im Auge.
„Das klingt so, als hätten Sie eine ganz besondere Verbindung gehabt.“
Hannah nickte, während sie die Träne mit einem leichten Lächeln wegwischte.
„Ja, das hatten wir. Und jedes Mal, wenn ich diese Postkarte anschaue, erinnert sie mich daran und vielleicht ist sie der Grund, warum ich mich nie wirklich allein gefühlt habe, wenn ich nach oben geschaut habe, vielleicht ist sie sogar der Grund, warum ich heute hier bin.“
Die Stille wurde schließlich vom gedämpften Zischen des Kompressors unterbrochen, BS-D-V3.8 war erfolgreich abgeschlossen. Hannah lächelte der Postkarte zu, und begab sich zu den anderen aus ihrem Team.
T minus 00:30:00 | Matthias
Matthias fand nur noch einen Techniker vor, der einen transparenten Schlauch zusammenrollte.
„Nein, 30 Minuten vorher sitzen die schon drin, steht aber alles in der Dispo“, sagte er mit einer Gelassenheit, die Matthias wütend machte. „Sie kommt ja in 90 Tagen wieder runter“, lachte er noch, bevor er mit seinem Kompressorwagen den Raum verließ. Matthias war zu spät. Er konnte seine Lüge nicht rechtzeitig geraderücken, er hatte es nicht geschafft.
T plus minus 00:00:00 | Kontrollraum
Jubel hinter Bildschirmen.
Epilog
T minus 262980:30:00 | Matthias
Ein bisschen bereute er es, dass er Hannah heute Abend nicht die Wahrheit sagen konnte. Doch wie erklärt man seiner fünfjährigen Tochter, dass ihre Mama den Kampf im Krankenhaus endgültig verloren hat? Also erfand er eine Lüge, die immerhin Milliarden Menschen glaubten: „Mama ist oben im Himmel und wartet auf uns“, hatte er nach dem Zubettbringen gesagt. „Gut, dann kann ich sie ja irgendwann mal besuchen“, kuschelte sich Hannah damals vor fast dreißig Jahren zufrieden in ihr Kissen.