Sie war froh über den Verlust ihrer Freiheit. Nie hätte sie erwartet, dieses Gefühl einmal zu genießen, doch jetzt konnte sie es sich erlauben. Es war nicht ihre Schuld, kein menschliches Versagen, keine Resignation, keine Kapitulation. Vielmehr war es Glück im Unglück, die Verantwortung gerade jetzt abgeben zu können und ihr Schicksal grimmig schweigend zu akzeptieren.
Alle fünf Sekunden tauchte die Warnleuchte das Innere ihrer Kapsel in eine gespenstische Atmosphäre. Das rote Leuchten zeichnete ihr Spiegelbild auf das Fenster vor ihr und zwang sie regelrecht dazu, es anzustarren. Sie blickte in das unschuldige Gesicht eines Kindes. Ihre Augen schienen voller Neugier und Wissensdrang und versprühten eine Naivität, mit der sie die Welt noch ohne jegliche Vorurteile und Zwänge erkunden konnte. Sie blickte in ein Gesicht voller Träume und Erwartungen, erinnerte sich an all ihre Pläne und Vorstellungen ihres zukünftigen Lebens.
Plötzlich erlosch die Warnleuchte und zurück blieb der Blick aus dem Fenster. Sie starrte auf den gigantischen Erdball, sah die großen Kontinente, die noch halb im Dunklen lagen, während sich am Rand des Planeten mit einem bläulichen Schimmer schon der nächste Morgen ankündigte. Sie beobachtete den Sternenschimmer, der immer mehr verblasste und wurde ganz aufgeregt beim Gedanken an diese unendlichen Weiten und an all die Geheimnisse, die man dort noch entdecken konnte. In ihren Gedanken erkundete sie ferne Sonnensysteme und erforschte fremde Planeten.
Dann verschwand plötzlich wieder alles hinter einem bedrohlichen roten Leuchten. In ihrem Spiegelbild entdeckte sie nun eine junge Frau. Alles an ihrem Gesicht sprühte vor Energie und Tatendrang. Noch zu gut erinnerte sie sich an all ihre damaligen Theorien, an ihre Überzeugungen und rebellischen Aussagen. Sie blickte in die Augen einer Frau, die verändern wollte. Die sich nicht mit dem Status quo zufriedengab und stattdessen immer danach drängte, etwas zu verbessern. Sie erinnerte sich an das Chaos, an ihre Fehlentscheidungen, aber vor allem an das Gefühl der Freiheit und des Lebens. Sie entdeckte ein selbstsicheres, fast schon arrogantes Lächeln auf ihrem Spiegelbild. Die freudige Zuversicht, ihre Zukunft selbst bestimmen zu können.
Im nächsten Moment starrte sie auf all die Lichter inmitten der dunklen Kontinente. Wie ein Nervensystem hatten sie sich dort unten ausgebreitet, manchmal als schmale Linien, dann wieder in unförmigen Flächen. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Ungerechtigkeit, dass die Lichter die Natur manchmal fast vollständig vertrieben, während sie an anderen Stellen gar nicht existierten und stattdessen hilflose Menschen im Dunklen um ihr Überleben kämpften. Sie blickte auf das schmale blaue Band am Rand des Planeten, auf die viel zu dünne Atmosphäre, die einzige Schutzschicht zwischen dem Leben und dem kalten All. Sie verlor sich im tiefen Schwarz des Universums, ging unter in einem unvorstellbar gigantischen Rätsel der Natur. Sie spürte das brennende Verlangen nach einer Erklärung, suchte in den schwarzen Tiefen dieser Leere nach einer zufriedenstellenden Antwort und musste wieder einmal akzeptieren, nicht wirklich etwas zu finden.
Mit dem nächsten Leuchten blickte sie in die ernsten Augen einer erfahrenen Astronautin. Die Lachfalten um die Augen bildeten den Gegenpol zu dem Ansatz einer zerfurchten Stirn. Sie spürte die Last der Verantwortung auf ihren Schultern und die von einem gehetzten Leben stammende Erschöpfung. Sie fühlte sich zufrieden, aber auch angewidert von ihrem eigenen Dasein. Immer noch spürte sie das Aufbegehren der jungen Frau. Dieses Streben hatte man nun aber um dessen Naivität gestutzt und stattdessen um eine Mischung aus Resignation und Aussichtslosigkeit ergänzt. Das Gesicht war grimmiger als zuvor, kämpferisch und voller Leid. Ihre Träume waren vergessen, die Realität hatte dieses Gesicht fest im Griff.
Das Erlöschen der Warnleuchte erlaubte den Blick auf einen kleinen Planeten, der hilflos im Nichts hing. Das Nervensystem der elektrischen Lichter erschien ihr wie eine Rebellion gegen die Natur und gegen die Einsamkeit dieses unvorstellbaren Raumes. Es war das Auflehnen einer fragilen Zivilisation gegen eine tödliche Umgebung, die keine Gnade kannte. Der verzweifelte Versuch, auf einem einfachen Gesteinsbrocken zu überleben. Mit einem Mal verspürte sie Angst. Sie wurde überwältigt von der Vorstellung, dass diese Lichter dort unten einmal ausgehen könnten und dass das kalte All einfach weiter existieren würde, ohne auch nur Notiz davon zu nehmen. Sie hatte Angst, dass all die Liebe und Freude, all die Erinnerungen für immer verloren gehen könnten. Gleichzeitig erfüllte sie aber auch eine grimmige Gewissheit und die Erinnerung, warum sie diesen Planeten und diese Rebellion verlassen hatte. Der friedvolle Anblick verlor seine Unschuld und das Nervensystem erschien ihr auf einmal wie eine Krankheit. Hinter jedem dieser Lichter versteckten sich Lügen und Betrug. Man wetteiferte um Profit, jeder kämpfte gegen die eigenen Triebe und nur die wenigsten konnten diese dauerhaft in Schach halten. Bilder von sinnloser Zerstörung, grauenhaften Kriegen und verstörender Taten folterten ihren Verstand und trieben ihr jegliches Mitleid für diese Rebellion aus. Mit einem Mal sehnte sie sich geradezu nach der Leere des Alls, nach den entfernten Galaxien und unentdeckten Planeten.
All diese Gedanken erloschen mit dem Aufgehen der Sonne. Es war zu spät für Hoffnungen und Ängste. Das technische Versagen ihrer Kapsel hatte ihr diese Freiheit für immer genommen. Und sie war froh über den Verlust. Glücklich, nicht darüber entscheiden zu müssen, ob sie nun hierblieb oder nicht. Erleichtert, das Schicksal dieser rebellischen Zivilisation nicht weiter verfolgen zu müssen. Mit einem belustigten Lächeln beobachtete sie, wie sich ihre Kapsel immer weiter aufheizte. Ihre kleine Rebellion würde hier enden. Zurück blieb die Hoffnung, dass eines ihrer Fünkchen vielleicht dabei helfen konnte, ein größeres Feuer zu entfachen.