Gleisendes Licht umgibt mich. Es ist so hell, dass ich meine Augen zukneifen muss. Erst jetzt bemerke ich, dass ich falle. Aber nicht schnell. Es ist eher ein langsames schweben. Als ich vorsichtig versuche die Augen zu öffnen, ist das Licht schwacher geworden, sodass ich den Nebel bemerke, der mich umgibt. Gerade als ich mich umdrehen will, durchbreche ich den Dunst und vor mir taucht ein rotbrauner, karger Boden auf. Als meine Füße aufsetzen, bin ich erleichtert.
Ich sehe mich um. Wo bin ich denn hier gelandet? Und wie bin ich hierher gekommen? Ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Mein Schädel brummt und ich fühle mich schlapp. Am liebsten würde ich mich einfach auf den Boden legen und einschlafen.
Es ist mucksmäuschenstill, es weht kein Wind und am Himmel sehe ich die Nebelschicht, durch die ich wohl gekommen bin. Nachdem ich eine Zeit lang vor mich hingelaufen bin, höre ich Stimmen und Geräusche, die immer lauter werden, bis vor mir eine kleine Siedlung auftaucht. Ein wenig Hoffnung flammt auf. Vielleicht können die Bewohner mir Antworten auf meine Fragen geben und mir sagen, wie ich hier wieder weg komme.
Doch als ich sehe, wer hier lebt, bin ich mir sicher, dass ich nur träume. Ich kneife mich. Der Schmerz lässt mich aufstöhnen. Ich reibe meine Augen und blinzele mehrfach. Doch die kleinen bunten Wesen sind immer noch da. Sie sehen aus wie eine Kreuzung zwischen Mensch und Affe. Mund, Ohren und Nase sind verhältnismäßig groß, während ihre Beine und Arme sehr schlaksig dünn aus einem pummeligen Körper ragen.
Keiner scheint mich zu bemerken. Eine Familie sitzt am Tisch und strickt, eine andere putzt Schuhe und eine dritte bearbeitet Holz. Sprechen sie überhaupt meine Sprache? Bisher konnte ich keine klaren Sätze verstehen. Es ist eher ein leises Gebrabbel, das einzelne von sich geben.
Ich laufe einen Weg entlang, bis ich wieder nur noch von karger Landschaft umgeben bin. Doch während es vorhin kaum eine Erhebung, geschweige denn einen Berg zu sehen gab, ragt nun plötzlich ein Hügel vor mir aus dem Boden. Und dann entdecke ich die kleine Gestalt. Als ich näher komme, sehe ich, wie sie mit einer Schaufel sandige Erde in eine Schubkarre füllt und diese dann mit dem Einsatz ihres ganzen Körpergewichts unbeholfen Richtung Bergspitze schiebt.
Ich fasse mir ein Herz. „Kann ich helfen?“ Zwar fühle ich mich nicht sonderlich stark, aber mir wird es definitiv leichter fallen als ihr. „Oh, ja das wäre sehr lieb“. Schüchtern blickt sie zu mir hoch. Ihr Gesicht verrät mir, dass sie wohl schon älter ist. Sie scheint meine Gedanken lesen zu können. „95 Jahre“ Ungläubig schaue ich sie an. „Wow, Sie haben sich aber gut gehalten.“
„Danke, aber bitte nenn mich doch Elsa.“ Ich ergreife ihre ausgestreckte pink-grün gefleckte Hand „Ich bin Raja. Was tust du denn hier?“
Während ich ihr die Schubkarre abnehme und den Inhalt den Berg nach oben bugsiere, folgt sie mir. „Ich möchte sehen, was hinter dem Nebel ist.“
Ich halte inne und schaue sie an, um in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie Scherze macht. Doch sie erwidert ernst meinen Blick. „Was? Das schaffst du doch niemals.“ Als sie sich daraufhin abwendet, tut es mir leid. „Entschuldige, aber mir scheint dein Vorhaben aussichtslos. Bis dort oben sind es doch noch hunderte Meter.“
„Schon gut, alle reagieren so. Keiner glaubt daran, dass ich es schaffen könnte.“
„Wie lange baust du denn hier schon?“
„40 Jahre, drei Monate und zwölf Tage“. Sie sagt das, als wäre es nichts.
„Hast du keine Familie? Warum hilft dir niemand?“
„Wie gesagt, keiner glaubt daran und keinen interessiert es. Sie leben hier lieber ihr bequemes, tristes Leben. Ich habe es satt. Jeder Tag ist hier gleich. Die Kinder lernen, was ihre Eltern, ihre Großeltern, ihre Urgroßeltern und ihre Ururgroßeltern schon gelernt haben.“
„Was denkst du, was hinter dem Nebel ist?“
„Ich weiß es nicht, deshalb möchte ich es ja herausfinden“
„Aber es kann sein, dass du dich dabei verletzt oder krank wirst und dann war alles umsonst.“
„Ja, kann passieren.“ Sie zuckt mit den Schultern und füllt Schaufel für Schaufel die Schubkarre erneut. Wow, so viel Durchhaltevermögen hätte ich auch gerne.
„Ich bin durch den Nebel gekommen. Ich kann dir sagen, dass dort nichts zu sehen ist“
„So so, ist das so? Das möchte ich selbst sehen.“
„Warum? Wenn ich dir doch sage, dass sich diese Arbeit hier nicht lohnt. Warum willst du dir die Enttäuschung nicht ersparen?“
„Woher willst du wissen, dass es für mich eine Enttäuschung ist?“
Plötzlich lässt es einen lauten Schlag und ein heller Blitz durchbricht die Nebelschicht und verbindet für einige Sekunden diese mit dem Dorf, das in der Ferne zu sehen ist. „Was…?“, stammele ich. „Was war das denn?“
„Das…“ Sie zeigt in die Richtung, wo gerade noch das Spektakel zu sehen war. „… war die Erlösung für einen meiner Bekannten.“ Fragend schaue ich sie an. „Dem Schuster ging es schon lange schlecht. Seine Arbeit hat ihn kaputt gemacht, wenn du mich fragst. Er hatte eine schlimme Lungenkrankheit und die Schuhputzmittel haben das auch noch befeuert.“
„Und trotzdem hat er weiter gemacht?“
„Natürlich. So ist die Regel. Sonst wäre er wie ich verstoßen worden. Jetzt wird er von allen ehrenhaft verabschiedet.“
Plötzlich werde ich traurig. Ich denke an mein Leben. Wer bin ich? Ein Schuster, der sein Leben lang nur das Eine tut, bis ihn genau das auch ins Grab bringt? Nein! „Ich wäre gerne wie du!“, bricht es aus mir heraus. Elsa nimmt meine Hand und schaut mir tief in die Augen. „Du bist so viel mehr, als du glaubst. Du musst nur dafür kämpfen.“ Mittlerweile hatten wir sieben Schubkarren gefüllt und nach oben geschoben. Aber statt Erschöpfung, verspüre ich immer mehr Energie.
Auf einmal wird es wieder so hell, dass ich sie nicht mehr sehen kann. Meine Füße verlieren den Halt unter dem Boden. Dann ist da wieder der Nebel und ich schließe die Augen. Da ist noch etwas. Ein Piepen und Stimmen. Sie werden immer lauter. Als ich blinzele, sehe ich Köpfe über mir. „Raja! ich wusste, dass du es schaffst. Drei Monate… Alle dachten, du hast aufgegeben.“ flüstert eine weinerliche weibliche Stimme an meinem Ohr. Ich bin verwirrt und habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, was ich gerade erlebt hatte. Ich bin verwirrt und erschöpft aber irgendwie tief glücklich.