Es war ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, dessen Himmel getaucht war in ein kraftvolles Blau; ununterbrochen durch Wolken, Kerosinspuren oder Vögel; in Gänze klar. Es war, als wolle das Universum Platz schaffen, eine neutrale Grundfläche für jedmögliche Entdeckung bieten, wie ein noch leeres Pappplakat einer Gruppenarbeit in der Schule.
Tia Schaab, die schon seit 2030 für das CERN arbeitete, beobachtete diesen Himmel in ihrer Mittagspause mit großem Interesse. Sie erlaubte sich, obwohl sie die Projektleiterin des FCC, dem längsten Teilchenbeschleuniger der Welt, war, dann und wann aus dem unterirdischen Tunnelsystem an die Oberfläche zu gehen, um mehr als Metallwände und Bildschirme zu sehen. Das, so sagte sie oft, erweitere ihren Blick auf das große Ganze. Da die Glaswand des Eingangsbereichs des FCC etwas verschmutzt war, schien der Himmel für Tia nur in einem gedämpften Blau. Gleichwohl verlor sie sich in diesem simplen Anblick. Derweil fuhr unter ihr der Teilchenbeschleuniger unbeirrt hoch, um genug Energie für den nachmittäglichen Test zu sammeln. Tia Schaab hatte noch zwölf Minuten, bis er bereit sein sollte. Zumindest zwei davon wollte sie noch den blauen Himmel genießen, bevor sie sich aufmachen würde, zurück zu ihrem Team.
Sie, so wie jeder andere Mensch auch, wusste natürlich nicht, was sich alles über dieses Blau hinaus noch im Universum verbarg; es war ein Geheimnis, das die Menschheit bis an ihr Ende beschäftigen würde. Während dieser Gedanke manche ihrer Kollegen in die Knie zwang, empfand sie eine gewisse Ruhe, wenn sie daran dachte, dass das Universum eine bezaubernd gestaltete, aber verschlossene Box war. Es war Tia eine große Freude, jeden Tag unsere weltlichen Wunder erleben und jede Nacht die Gedanken in der Magie des weiten Alls verlieren zu können. Die Box war schön anzusehen. Aber ihr Schlüssel war gut versteckt; vielleicht wurde niemals einer für sie angefertigt. Und unsere kleinen Hilfsmittel konnten weder die Box an sich zerstören, um sie zu öffnen, noch ihr unbegreifliches Schloss knacken. Nur manchmal gelang es uns, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen. So hoffentlich auch an diesem Mittwoch, da im FCC ein Higgs-Boson mit einem Top-Quark kollidieren sollte, um ihre Kopplungseigenschaften zu ermitteln. Es würde nur ein minimaler Lichtschein durch das Schlüsselloch in die Box gelangen, aber zu sehen gäbe es dennoch etwas. Das war Tia Schaab Errungenschaft genug.
Wie sie so aus ihren Gedanken erwachte, da schaute sie auf ihre Uhr. Es war 14:26:41 Uhr. Vergnügt, die zwei Minuten gut abgeschätzt zu haben, machte sie sich auf den Weg, den sie um 14:27:11 Uhr zur Hälfte hinter sich gelegt hatte.
Genau in diesem Moment ließ eine laute Erschütterung das komplette Gebäude beben. Gegenstände flogen umher und Tia rettete sich unter einem Tisch, der vor der Glaswand stand. Da nach der ersten Erschütterung nichts mehr folgte, verwarf sie die Annahme eines Erdbebens und richtete sich wieder auf. Als sie jedoch aus dem Fenster schaute, sah sie sie, die wahre zweite Erschütterung.
Der blaue Himmel, eben noch so simpel, war aufgerissen und kaum noch vorhanden, als hätte ein deprimiertes Mitglied der Schulgruppenarbeit das Plakat zerschnitten. Es war ein gigantischer Riss in strahlendem Weiß am Himmel. Ohne die verdreckte Scheibe wäre es sicherlich zu hell gewesen, um lange Zeit darauf zu blicken. Einige Momente verharrte Tia Schaab starr vor diesem Schauspiel. Dann, die Augen kaum abwendend, um bloß nichts zu verpassen, holte sie ihr Handy heraus, um ihren Kollegen unten im Tunnel anzurufen. Klaus Weller antwortete sofort:
"Tia? Bist du gut auf? Bist du noch oben? Bleib da bloß! Es hat hier eine riesige Explosion gegeben! Ich war im Gemeinschaftsraum, als es passiert ist und bin dann sofort mit den anderen los, um am Unfallort zu helfen; der Tunnel muss ja eingestürzt sein…
Und ich hab schon mit Mara telefoniert, die war im Steuerungsraum, als es passiert ist und hat gemeint, der Teilchenbeschleuniger sei einfach zu früh losgegangen? Kannst du dir das vorstellen?"
- "Nein. Und du kannst dir nicht vorstellen, was ich gerade sehe."
"Was siehst du de - Oh mein Gott, Tia! Wir sind jetzt da! Du glaubst es nicht! Hey, hey, kommt da alle weg! Nein, nicht anfassen! Tia? Das ist unbeschreiblich. Der Tunnel ist nicht eingestürzt - Hey, schaut da nicht zu lange rein! Das Rohr ist zwar kaputt, aber sonst ist alles intakt. Als wäre nach der Explosion und deren Schockwelle alle Energie in einem Punkt gesammelt geblieben. Es ist ein weißer Punkt. Ich weiß nicht, was das sein soll...Tia? Und, und was ist da bei dir lo - NEIN! FINGER WEG HAB ICH GESAGT! NICHT SO NAH REINSCHAUEN!"
Von einem Moment auf den anderen verdunkelte sich der Riss und durch ihn hindurch trat ein riesiges Objekt, das der geübte Biologe, wenn er es nicht besser wüsste, als überdimensionierte, abgestorbene Hautzelle beschreiben würde. In diesem Moment verstand Tia, was geschehen war. Der Riss, der wie eine biblische Offenbarung vor ihr thronte, strahlte indes wieder in seiner gewohnten Intensität, wenngleich das große Objekt unbeirrt vor ihm herflog und ihn so teilweise verdeckte.
"Tut mir leid Tia. Der neue Kollege…naja, also, was wolltest du sagen?"
- "Alles, was kleiner ist als wir, ist irgendwann unendlich klein. Schau dir Quarks an. Oder Strings. Die kannst du dir nicht mal anschauen, weil sie kleiner als Photonen sind. Und alles, was größer ist als wir, ist unendlich groß. Es ist selbst mit Lichtgeschwindigkeit fast unmöglich, das komplette Universum zu durchreisen.
Und auf beiden Größen ist alles so…leer...zwischen den kleinsten und den größten Dingen. Aber was ist, wenn da mehr ist?"
"Tia, was willst du sagen?"
- "Klaus, ich glaube, wir haben gerade die Universumsbox aufgerissen. Doch die Vermutung liegt nahe, dass es keine Box, sondern eine Matroschka ist. Und wir...wir sind ein Teil davon..."
Unerbittlich strahlte der weiße Riss seine Wahrheit ins All, an jedem Fleck konnte man ihn sehen, überall.
Die Entdeckung hatte ihren Platz im Universum gefunden.