Die Stunde zog an mir vorüber, ohne dass ich viel wahrnahm. Nach Schulschluss sprach mich dann Frau Wax an, ich erzählte auch ihr die ganze Geschichte und den wichtigsten Teil der Vorgeschichten, die sie nicht kannte, weil sie zwei Jahre Erziehungsurlaub genommen hatte. Auch sie sagte, fassungslos wie Frau Reich: „Das darf doch nicht wahr sein! So etwas hätte ich nicht erwartet, dabei seid ihr doch sonst eine gute Klasse! Du darfst dir nicht die Schuld an dem Ganzen geben. Hast du eine Idee warum die Mädchen sich dir gegenüber so fies benehmen?“ Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf und sagte: „Na ja, ich habe gute Noten, interessiere mich für die meisten Fächer, habe durch den Zucker den zweifelhaften Vorteil, immer essen und trinken zu dürfen, interessiere mich für ganz andere Dinge als sie und außerdem sind mir Stars, Promis und Musik eigentlich total egal. Ich bin eben völlig anders als sie, aber das ist doch kein Grund, jemanden so sehr zu hassen, oder? Und getan habe ich ihnen ja auch nichts, ich hatte ja eigentlich nichts gegen sie.“ Die Lehrerin sah mir meine Verzweiflung an und versuchte mich zu trösten: „Ein Grund für deine schreckliche Situation in der Klasse ist meiner Meinung nach, dass du durch deinen Zucker schon viel weiter entwickelt bist, als die anderen. Du bist nicht mehr so ein Hühnchen, auch wenn du es dir manchmal noch so sehr wünschst. Andere Interessen und deine guten Noten spielen auch eine Rolle, denke ich. Aber selbst der Neid gibt ihnen kein Recht, sich so zu benehmen. Du bist in eine blöde Situation geraten, für die du nichts kannst. Lass dir deine Würde nicht nehmen, denn du bist würdevoll, ja, auch wenn du jetzt so ungläubig guckst.“
*Wie ein Stück Treibholz*
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Würdevoll, das klang nach mittelalterlichen Burgfräuleins, nach Adel, nach der Queen, nach etwas Königlichem. Und so etwas konnte ich beim besten Willen nicht an mir finden. Ich hatte für einen Augenblick meinen Gedanken nachgehangen und hörte nicht richtig zu, erst als sie mir anbot, dass ich sie immer erreichen könne, wenn ich jemanden zum Reden bräuchte, ich könne sie auch zu Hause anrufen, wenn sie nicht in der Schule sei, wurde ich wieder hellhörig. Und dann sagte sie die Sätze, an denen ich mich die ganze nächste Woche über festklammerte und die ungeahnte Kräfte in mir weckten: „Bewahre deine Würde, Frau! Denn du bist würdevoll, nicht so ein Hühnchen wie die anderen Mädels aus deiner Klasse.“ Einige Satzfetzen gingen mir noch lange nach. „Du bist würdevoll... Du kannst nichts dafür... Du bist in eine blöde Situation hineingeraten, aus der du nur schwer wieder herauskommen kannst...” Wie wahr, wie wahr, das hatte ich schon gemerkt als ich Estefania, dieser fiesen Zicke, ganz freundlich ein Taschentuch gereicht hatte, nachdem sie in der Klasse herumgefragt hatte, und sie mich nur anmaulte, von mir wolle sie nichts. Und nicht zuletzt der mir wichtigste Satz „Bewahre deine Würde, Frau!”, ging mir nicht aus dem Kopf. Sie hatte Frau zu mir, einer Dreizehnjährigen, gesagt! Ich konnte es kaum begreifen. Aber wenn diese Lehrerin so etwas sagte, dann meinte sie es auch so, das wusste ich ganz sicher. Und daran hielt ich mich fest, wie eine Ertrinkende an einem Stück Treibholz. Nur wegen diesen zwei Gesprächen ging ich, obwohl es eigentlich ein grässlicher Tag gewesen war, mit einem Lächeln auf dem Gesicht aus der Schule.