Jeder von uns ist ein Rätsel
Autorin: A.J. Steiger
übersetzt von Annette von der Weppen
Das labyrinthartige Cover und der Titel haben mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht. Es erzählt die Geschichte von Alvie und Stanley, einer Jugendlichen mit Asperger Syndrom und einem Jungen, der auf den ersten Blick bis auf eine körperliche Einschränkung normal wirkt, doch auch hinter seiner Fassade verbergen sich Geheimnisse gesundheitlicher und familiärer Art, was der Leser erst im Laufe der Geschichte erfährt.
Alvie hatte keine einfache Kindheit, sie ist sehr verschlossen und verhält sich gegenüber ihren Mitmenschen oft kalt und abweisend. Doch sie fühlt sich wohl bei ihrer Arbeit mit Tieren und ist fasziniert von Kaninchen. Häufig zitiert sie ihren Lieblingsfilm "Unten am Fluss" und zieht das Sozialleben dieser Tiere als Vergleich zu dem Zusammenleben der Menschen heran.
Da sie den Kontakt zu Menschen meidet, ist es eine schicksalhafte Fügung, die Alvie und Stanley zusammenführt, und es ist auf Grund von Alvies Erkrankung kaum verwunderlich, dass sich ihr Kennenlernen zunächst auf eine schriftliche Form beschränkt.
Gesellschaftliche Zwänge treiben Alvie in mehrfacher Hinsicht dazu, über ihren Schatten zu springen, so schafft sie es eines Tages doch noch, Stanley von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen nimmt ihren Lauf, die tagtäglich einen harten Kampf ausfechten müssen, um in unserer Gesellschaft zu bestehen.
A. J. Steiger hat mit Alvie und Stanley zwei außergewöhnliche und bemerkenswerte Charaktere in den Mittelpunkt einer Liebesgeschichte gestellt, die man nicht alle Tage zu lesen bekommt.
Auch wenn Alvies soziale und gesundheitliche Einschränkungen gleich zu Beginn der Geschichte thematisiert werden, so ist es im Nachhinein dennoch nur ein Kratzen an der Oberfläche, so dass es kaum verwunderlich ist, dass nicht nur ihr Umfeld, sondern auch der Leser zunächst Schwierigkeiten hat, mit ihrer Art warm zu werden. Alvie macht es einem nicht leicht, sie kennenzulernen und einen Blick unter ihre harte Schale zu werfen, hinter der sich ein warmherziger Mensch und intelligenter Kopf verbirgt. Schicht für Schicht blättert die Autorin diese raue Schale ab und gibt den Blick auf das komplette Krankheitsbild und Alvies schwierige Kindheit frei.
Doch auch Stanley hat sein Paket zu tragen. In mancher Hinsicht vielleicht ein leichteres als Alvie, in anderer Hinsicht ein schwereres. Auch in seine Krankheit und die familiären Hintergründe gewinnt der Leser immer tiefere Einsicht, dennoch hatte ich am Ende des Buches den Eindruck, Stanley nicht ganz so intensiv kennenlernen zu dürfen wie Alvie.
Insgesamt berührt die Geschichte von Alvie und Stanley in "Jeder ist sich selbst ein Rätsel" stark, und ich finde es sehr gut und wichtig von A. J. Steiger, zwei Menschen, die auf Grund von Zwängen und Regeln, in die nicht jeder hineinpasst, am Rande unserer Gesellschaft leben müssen, in den Mittelpunkt einer der außergewöhnlichsten Liebesgeschichten zu stellen, die ich jemals gelesen habe.
Auch wenn Alvie als Charakter vielleicht schon sehr außergewöhnlich ist, so sind Menschen, die Probleme haben soziale Kontakte zu knüpfen, inzwischen nicht mehr die Ausnahme. Erschreckenderweise ist soziale Isolierung für mein Empfinden ein Problem, welches immer größer wird in unserer Gesellschaft.
Unabhängig von Alvies Krankheitsbild rüttelt "Jeder ist sich selbst ein Rätsel" hoffentlich wach, so dass wir gegenüber unseren Mitmenschen mehr Empathie empfinden und versuchen, hinter dem scheinbar Offensichtlichen den Menschen als Individuum zu entdecken und nicht auf Grund von sozialen Hintergründen oder Krankheiten abzustempeln oder gar zu verurteilen.
*Erschienen bei Carlsen*
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Autorin / Autor: anette1809 - Stand: 2. Januar 2019