Es sind so schreckliche Geschichten, und das schrecklichste ist, dass das, was darin geschildert wird so sehr im Alltag und mit dem Bekannten- und Freundeskreis verwoben ist, dass es fast unerträglich ist, sie zu lesen. Vom 1. Mai bis 15. Juni 2012 haben Frauen und Männer auf der Webseite ichhabnichtangezeigt.wordpress.com anonym ihre Motivation dafür genannt, warum sie nach einer Vergewaltigung oder anderen sexualisierten Gewalthandlungen keine Anzeige erstattet haben. 1105 Statements sind in diesem kurzen Zeitraum zusammengekommen und sie schildern oft ein Leid, das wütend macht und fast sprachlos. Aber sie öffnen auch die Augen, denn sie machen die Gründe dafür nachvollziehbar, warum die Opfer von sexueller Gewalt nicht darüber sprechen - und die Täter straflos davonkommen.
*Nicht im dunklen Wald, sondern im Bekanntenkreis*
Vergewaltigungen und Nötigungen finden bekanntermaßen nicht hauptsächlich im dunklen Wald oder in uneinsehbaren Hinterhöfen, sondern zum größten Teil in der eigenen Familie oder im Freundeskreis statt. Stellt das Opfer dann den Vater, Freund, Onkel, Lehrer, Nachbarn oder Trainer bloß, wird ihm erstmal wenig Glauben geschenkt, denn es gibt eine Reihe von Vergewaltigungsmythen, die zwar längst entkräftet, aber immer noch geglaubt werden. Da wäre zum Beispiel dieser: Nur ein fremder Täter kann eine „richtige“ Vergewaltigung verüben, oder: die Frau hat es bestimmt „nicht anders gewollt“, oder: nur "bestimmte Frauen" erleben Gewalt, oder: "Jungs und Männer können gar nicht vergewaltigt werden" ... . Kein Wunder, dass die Opfer es bei diesen immer noch weit verbreiteten Vorstellungen immens schwer haben, über ihre erlebte Tat zu reden, geschweige denn sie anzuzeigen. Was ihnen in vielen Fällen entgegenschlägt, ist nicht das erhoffte Verständnis und die nötige Unterstützung, sondern großes Misstrauen. Ihre Geschichte wird kurzerhand für unglaubwürdig erklärt, und sie werden zum Schweigen gebracht. Ein Grund dafür ist auch, dass die Gewalttäter meist die Mächtigeren und die Opfer die weniger Mächtigen sind. LehrerIn - SchülerIn, Nachbarkind - NachbarIn, Neffe/Nichte - Onkel/Tante ... . Sexuelle Gewalt kommt darüber hinaus in allen Gesellschaftsschichten vor und niemand ist vor ihr sicher. Viele Studien zeigen, sie ist nicht die Ausnahme, sondern bittere Normalität.
*Warum werden sexuelle Gewalttaten nicht angezeigt?*
Welches die Gründe sind, warum so wenige Opfer zur Polizei gehen und die Tat zur Anzeige bringen, darüber brachte die anonyme Social Media Kampagne Aufschluss: Als Hauptgrund wurde emotionale Belastung inklusive Schuld und Scham genannt, gefolgt von Angst, den abwehrenden und ungläubigen Reaktionen des Umfelds, mangelndem Vertrauen in Behörden, Polizei und die Justiz, sowie die eigene Erziehung.
Viele Opfer erstatten aus Selbstschutz keine Anzeige: "Scham und das Gefühl, selbst schuldig zu sein, ist dabei ein großes Hemmnis. Es kostet viel Kraft, mit fremden Menschen über Dinge zu sprechen, für die man sich schämt. Vor allem, wenn man befürchtet, etwas falsch gemacht, etwa aufgrund von Kleidung, Alkoholkonsum, oder sich nicht genug gewehrt zu haben.", erläutern die Kampagnen-InitiatorInnen, der "Aktionskreis gegen sexualisierte Gewalt". "Die Betroffenen erfuhren äußerste Ohnmacht, und so fühlen sie sich oft noch lange Zeit danach hilflos, zerstört, komplett verrückt, und leiden unter dem Gefühl der Wertlosigkeit. Es ist also nicht verwunderlich, dass viele Betroffene angaben, keine Kraft für einen Rechtsstreit übrig zu haben."
*Wer sind die Täter?*
Wie oben schon erwähnt, bestätigt sich auch in den Statements der Kampagne, dass der überwiegende Anteil der genannten Täter aus dem familiären oder nahen sozialen Umfeld der Opfer kommt. Auch nach der Tat empfinden die Betroffenen noch Treue und Liebe zu ihnen, und schweigen lieber, als den Täter anzuzeigen, weil sie nicht wollen, dass er verurteilt wird oder weil sie ihre Kinder, ihre Familie oder ihr nahes soziales Umfeld vor den Konsequenzen der Tat schützen wollen.
*Über einen längeren Zeitraum*
Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe finden oft auch über längere Zeiträume statt, manchmal sogar mehrere Jahre. Die Initiatorinnen der Kampagen sprechen dabei von einer Sozialisierung zum Opfer, von Viktimisierung. Dabei spielen auch geschlechtsspezifische Gründe eine Rolle: Wenn Jungs und Männer täglich eingetrichtert bekommen, dass sie stark sein müssen und Mädchen und Frauen nicht beigebracht bekommen, dass sie auch nein sagen
dürfen, ist es kaum verwunderlich, dass Grenzüberschreitungen als normal angesehen werden und kein Unterschied zwischen einem harmlosen Flirt und einer sexuellen Gewalthandlung gesehen wird.
*Was tun?*
Die Initiatorinnen der Kampagne #ichhabnichtangezeigt haben die Ergebnisse ausgewertet und verschriftlicht und einen offenen Brief an verschiedene Ministerien verschickt, in dem sie zum Beispiel mehr Aufklärung in Schulen über Vergewaltigungsmythen oder eine altersgemäße Aufklärung über eine selbstbestimmte Sexualität fordern. Darüber hinaus rufen sie das Bundesjustizministerium dazu auf, die Verjährungsfristen bei sexueller Gewalt aufzuheben, damit traumatisierte Opfer auch nach einigen Jahren Anzeige erstatten können, und an das Bundesinnenministerium richten sie den Appell, die Polizei bei der Präventionsarbeit zu unterstützen, z.B.
für Selbstverteidigungskurse und für Aufklärungskampagnen durch ausgebildete MitarbeiterInnen der Polizei.
"Sexualisierte Gewalt ist ein Angriff auf die Menschenwürde", so die Initiatorinnen, "Es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft in der Übernahme der Verantwortung versagt und sie statt dessen an die Betroffenen abgibt, indem sie die Betroffenen gesellschaftlich ausgrenzt und dazu verdammt, eine heile Welt vorzutäuschen. Dieses Klima des Schweigens ist einer zivilisierten Gesellschaft wie der unsrigen nicht würdig, und daher sehen wir dringenden Handlungsbedarf. Wir nehmen Sie darum in die Pflicht, diesen Missstand zu beheben und sich Ihrer Verantwortung zu stellen, um künftige Straftaten zu vermeiden, Opfer kompetent zu unterstützen und zu einem aufgeklärten Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein beizutragen."
Hoffen wir, dass dieser Aufruf nicht ungehört bleibt!
Autorin / Autor: Redaktion; - Stand: 30. Juli 2012