Die Macht der Buchstabenmenschen
Studie: Buchcharaktere beeinflussen unser Leben
Wer schon einmal richtig in einem Buch abgetaucht ist, mit der Heldin (oder dem Helden) geweint, gelacht, geliebt, gehofft und gebangt hat, der weiß, welche Macht die erfundenen Personen auf das eigene Empfinden und die eigene Person haben können. Schlechte Laune zu haben, wenn die derzeit aktuell verschlungene Romanfigur gerade einen totalen Durchhänger hat oder auf der ganzen Linie scheitert, kommt dann nicht von ungefähr, sondern von einem Phänomen, das Forscher der Ohio State University "Experience-taking" (etwa: Erfahrungs-Übernahme) getauft haben. Sie erforschen gerade, wie und wann das gefühlsmäßige Versinken in einen fiktionalen Charakter Auswirkungen auf das reale Leben haben kann und führten hierzu verschiedene Experimente durch.
So ließen sie etwa Testpersonen verschiedene Texte über einen fiktionalen Charakter lesen, der allerlei Hindernisse überwinden muss, um wählen gehen zu können (Autopanne, Regen & Co.). Die Testpersonen, die sich stark mit der Figur indentifiziert hatten, gingen wenige Tage später mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zu einer real stattfindenden Wahl als die Testpersonen, die sich nur wenig mit der Figur identifiziert hatten.
Das funktionierte vor allem dann gut, wenn die Geschichte in der ersten Person geschrieben war und der fiktionale Charakter gewisse Ähnlichkeiten mit dem Leser hatte (z.B. ebenfalls Student war wie die Testpersonen).
In einem anderen Experiment konnten die WissenschaftlerInnen zeigen, dass heterosexuelle Studenten deutlich weniger Vorurteile gegenüber Homosexuellen an den Tag legen, wenn sie sich zuvor mit einer homosexuellen Romanfigur identifizieren konnten. Eine Kurzgeschichte wurde in drei Versionen serviert, in denen es um einen Tag im Leben eines (homosexuellen) Studenten ging. Seine Homosexualität wurde entweder sehr früh, in der Mitte oder erst ganz zum Schluss thematisiert.
So wollten die WissenschaftlerInnen überprüfen, wie stark sich Unterschiede zwischen dem Leser und der Figur auf das "Experience-taking" auswirken. Tatsächlich funktionierte es in diesem Fall am besten, wenn die Homosexualität - hier als der Unterschied - erst spät zum Thema wurde. Je stärker aber mit der Figur empfunden wurde, desto positiver äußerten sich die Probanden anschließend über Homosexualität im allgemeinen und desto weniger Vorurteile wurden der Romanfigur angedichtet.
Die Ergebnisse wiederholten sich in Versuchen mit einer Geschichte über einen schwarzen Studenten, die von weißen Studenten gelesen wurde.
Je stärker man sich also mit einer Romanfigur identifizieren kann, desto mehr Macht hat sie, einen auch im realen Leben zu beeinflussen. Diese Form des Verschmelzens mit einer Figur funktioniert besonders gut, wenn man der Romanfigur ähnelt und es einem gelingt, die eigene Person beim Lesen aus dem Blick zu verlieren. Testpersonen konnten darum in den Versuchen nur schlecht abtauchen, wenn sie beim Lesen vor einem Spiegel saßen.
Wenn ihr also dazu tendiert, ganz besonders intensiv mit Romanfiguren zu verschmelzen und euer Ich dabei ganz zu verlieren, dann achtet darauf, dass eure Romanfiguren auch ganz besonders toll sind. Denn sie haben möglicherweise mehr Einfluss auf euch, als euch bewusst ist.
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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 8. Mai 2012