Tage ohne Hunger
Autorin: Delphine de Vegan
Übersetzung: Doris Heinemann
„Tage ohne Hunger“ ist der Debütroman von Delphine de Vigan, der in Frankreich bereits 2001 erschienen ist und nun auch in Deutschland veröffentlicht wurde.
Die Autorin erzählt darin von der 19-jährigen Laure, die mit Magersucht in eine Klinik eingewiesen wird. Der Verzicht auf Nahrung ist für sie ein Mittel zur Kontrolle, die letzte, verzweifelte Möglichkeit, das zu fassen und zu begreifen, was sie nie fassen konnte: ihr eigenes Leben. Bald wird deutlich, dass der todesmüde Versuch, ihr Leben durch exzessives Fasten zu kontrollieren, aus kindlichen und jugendlichen Erfahrungen herrührt. Mit ihrer Schwester wächst sie bei einer psychisch kranken Mutter auf, die sich in ihrer eigenen stillen Trauer begräbt, später zieht sie zu ihrem Vater, einem Choleriker, der sie und ihre Schwester psychisch missbraucht. Stillschweigend ertragen die Geschwister die jahrelangen Demütigungen. Der Kontrollverlust ist für sie Normalität. Erst durch das Auszehren ihres eigenen Körpers scheint Laure die Macht über sich zurückzuerlangen – bis sie in der Klinik durch die Anteilnahme eines empathischen Arztes wieder lernt, mit sich, ihrem Körper und ihren Erfahrungen zu leben.
In vorsichtigen Worten erzählt Delphine de Vigan diese Geschichte, und trotz der brutalen und traurigen Thematik schafft sie es, sie mit einer einfühlsamen Sanftheit zu erzählen. Sie beschreibt „das Fasten als Allmacht, als Festung“, die Erkrankung ist eine „unglaubliche Kälte“, die sich im Körper ausbreitet. Sie beschreibt diese komplexe Erkrankung so vielfältig, dass man als Außenstehende_r meint, sie beinahe begreifen zu können – zumindest soweit, wie Laure und die anderen Erkrankten sie selbst (nicht) begreifen können. „Es ist die Geschichte eines traurigen Kieselsteins“, ebenso wie die Geschichte einer Rettung. Laure ist nicht nur schwach, sie ist auch eine Kämpferin, sie hungert nicht um zu sterben, sondern um zu leben. Delphine de Vigan verstrickt sich nicht in diesen scheinbaren Widersprüchen, sie erzählt sie, mal distanziert, mal detailliert auf überraschend einleuchtende Art.
Es ist ein erstaunlicher Debütroman, der einen tiefen Einblick in eine schwierige Thematik gibt und trotzdem keinen Schwermut hinterlässt. Auch wenn die Vergangenheit sich nicht ändern lässt, so lässt sie sich durchaus überwinden. „Tage ohne Hunger“ ist nicht nur für Personen, die sich für die spezifische Thematik interessieren, denn der einfühlsame, tiefgründige Stil der Autorin verdient auch die Aufmerksamkeit aller anderen Lesenden.
*Erschienen bei DUMONT*
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Autorin / Autor: ileni - Stand: 7. September 2018