Vorlaute Romanfiguren

Umfrage: Viele Schriftsteller_innen hören die Stimmen ihrer Figuren im Kopf und führen regelrechte Diskussionen mit ihnen

Stell dir vor, du möchtest ein Buch schreiben und hast dir alles schon perfekt in deinem Kopf zurechtgelegt. Du weißt ganz genau, wie die Figuren aussehen, wie ihre Charaktere beschaffen sind und was sie im Laufe des Plots so alles tun oder auch nicht tun sollen.
Zuerst läuft auch alles noch genau so, wie du es dir vorgestellt hast - bis deine Figuren sich auf halbem Weg durch die Geschichte plötzlich selbstständig machen. Sie werden trotzig, lassen sich immer schlechter lenken und schlagen schließlich einen Pfad ein, den du gar nicht für sie vorgesehen hattest. Und was noch viel schlimmer ist- du kannst in deinem Kopf sogar hören, wie sie mit dir diskutieren!
Klingt komisch? Ist es aber gar nicht! Denn nicht wenige Schriftsteller_innen berichten von exakt dem gleichen Phänomen: Der Emanzipation ihrer Figuren, der sie als Autor_innen fast hilflos gegenüberstehen.
Das hat eine Umfrage unter Schriftsteller_innen zu diesem Thema auf dem „Edinburgh International Book Festival“ in den Jahren 2014 und 2018 gezeigt.

*Literarische Figuren mit Eigenleben*
Über 60 Prozent der insgesamt 181 Teilnehmer_innen gaben dabei an, dass sie die Stimmen ihrer Charaktere in ihren Köpfen hören würden oder dass manche Figuren ein solches Eigenleben entwickeln, dass die Autor_innen richtiggehende Diskussionen mit ihnen führen könnten. Obgleich alle Teilnehmer_innen erklärten, dass diese Erfahrungen rein imaginär waren, so sagten sie auch, dass sie von den Entscheidungen ihrer Figuren manchmal regelrecht überrascht wurden. Außerdem hätten sie zeitweise das Gefühl gehabt, gar nicht mehr der alleinige Herr über ihre eigene Geschichte zu sein. Doch wie kommt das?

*Reale Vorbilder für fiktive Charaktere*
Neuste Studien des Projekts "Hearing the Voice" zur sogenannten "inneren Rede" können vielleicht Aufschluss darüber geben. Bei der inneren Rede handelt es sich um den inneren Mono- und/oder Dialog, den die meisten von uns haben, wenn wir in Worten denken.
Doch hören wir dabei nicht nur unsere eigene Stimme. Oft gesellen sich auch die Stimmen anderer Menschen mit dazu - beispielsweise die eines Elternteils, die einen Rat gibt oder Kritik äußert.
Tatsächlich spielen diese anderen Stimmen auch eine große Rolle, wenn es um literarische Charaktere geht. Der Knackpunkt ist nämlich, dass diese Charaktere auf Menschen basieren, die wir im realen Leben kennen. Und genauso, wie wir nicht kontrollieren können, wie beispielsweise unsere Mutter denkt und reagiert, können wir auch einen Charakter, der im Grunde ihrem nachempfunden ist, nicht vollends lenken. Wir können nur intuitiv erkennen, was sie vielleicht tun könnte, weil wir sie gut kennen. Je besser man also seinen fiktiven Charakter kennenlernt, umso intuitiver wird man auch hier wissen, wie er sich entscheiden wird - ohne ihn jedoch in diese Richtung drängen zu können. Denn was wir denken, was jemand tut und was er dann tatsächlich macht - das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Quelle:

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Autorin / Autor: Sarah H. - Stand: 31. August 2020