Weltenschreiber

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

´Was für ein Kaff. Das wird die ödeste Klassenfahrt unseres Lebens´, dachte Nele und sah gelangweilt an der Fassade des uralten Fachwerkhauses hoch, in dem sie die nächste Woche verbringen sollten. Sie schaltete ihren iPod ein. Lustlos trabten sie hinter Herrn Winkel her, der sich pfeifend auf den Weg zur Rezeption machte. Von innen sah das Haus aus, als würde es gleich auseinander fallen. Dicke Holzbalken stützten die poröse Decke und durch etliche kleine Risse an den Fensterrahmen pfiff der Wind, doch nicht einmal das schien Herrn Winkels Stimmung zu dämpfen. Er teilte den Schülern begeistert ihre Zimmernummern mit.
Nele hatte Glück, sie kam mit ihren beiden besten Freunden Melanie und Sina und der schweigsamen Laura in ein Zimmer.
Kaum, dass sie ihren Raum betreten hatten, warf Sina ihre Tasche auf das Bett am Fenster und beanspruchte den besten Schlafplatz für sich. Melanie und Laura hasteten sofort zu den beiden Betten neben dem Badezimmer und so blieb für Nele nur das Bett neben dem riesigen alten Schrank. Sie seufzte und ließ ihre Tasche darauf fallen. In dem Moment rief Herr Winkel zum Abendessen und im Flur entstand ein riesen Gedränge, in das sich Nele, Melanie und Sina sofort einmischten, um den besten Tisch im Speisesaal zu erwischen.

Zwei Stunden später lagen sie alle in den Betten und versuchten, irgendwie Schlaf zu finden.
Nele konnte nicht schlafen, denn aus dem Flur drang ein ständiges Gemurmel ins Zimmer.
Doch kam das wirklich aus dem Flur? Leise setzte Nele sich auf und horchte. Im Bett gegenüber schnarchte Laura geräuschvoll vor sich hin. Doch da war auch noch etwas Anderes. Ein ganz leises Gemurmel, es hörte sich fast an wie reißendes Papier und doch konnte Nele es als Stimme ausmachen. Eine Stimme aus dem Schrank. Doch das konnte nicht sein!
„Melanie, Sina!“, flüsterte Nele.
„Was ist los?“, murmelte Sina verschlafen und stützte sich auf die Ellbogen.
„Hört ihr das?“, raunte Nele. Eine Weile herrschte Stille.
„Laura schnarcht“, stellte Melanie dann fest.
Nele schüttelte den Kopf und stand auf. Leise tapste sie barfuß durch den Raum und drückte vorsichtig ihr Ohr gegen die angelehnte Schranktür. Jetzt konnte sie es ganz deutlich hören. Da kam eine ganz leise Stimme aus dem Schrank.
Melanie und Sina standen auf, schlichen zu Nele hinüber und horchten ebenfalls am Schrank. Nun konnten sie das Murmeln auch hören.
„Lasst uns nachschauen“, sagte Sina und bevor ihre Freundinnen sie aufhalten konnten, hatte sie den Knauf gepackt und daran gezogen. Was sie sahen, ließ ihnen den Atem Stocken.
Da war nichts mehr. Keine Wände, keine Ablagen, auf denen sie noch vor ein paar Stunden ihre Kleider abgelegt hatten. Nichts. Nur weiße Leere. Und mitten in dieser Unendlichkeit saß ein steinalter Mann an einem Schreibpult, schrieb und murmelte irgendetwas vor sich hin.
Die Freundinnen standen vor dem Schrank und starrten den Mann entgeistert an.
„Was ist das denn für ein Irrer?“, fragte Sina und trat auf den Schrank zu.
„Was tust du da?“, zischte Melanie alarmiert und hielt Sina an der Schulter fest. Sie wusste, zu welchen verrückten Ideen ihre Freundin manchmal neigte.
„Ich will wissen, was Er da macht. Ich gehe zu ihm und frage“, erwiderte Sina und befreite sich aus Melanies Griff.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist...“, fing Nele an, doch da war Sina schon in den Schrank gestiegen. Sie seufzte und schob sich hinter ihr und Melanie her. Kaum war sie durch den Schrank geklettert, hörte sie, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Erschrocken wirbelte sie herum, doch die Tür war verschwunden.
`Das ist alles nur ein böser Traum´, dachte sie und atmete tief durch.
Als sie ihre Freundinnen einholte, waren die Beiden schon an den Schreibpult getreten.
Sina räusperte sich und der Mann sah auf. Der Alte sah aus, als würde er jeden Moment tot umfallen, er musste über hundert Jahre alt sein.
„Besucher“, stellte er lächelnd fest „Was wollt ihr hier?“ Doch es klang, als wüsste er die Antwort auf seine Frage bereits. Überhaupt sah er aus, als wüsste er so Einiges, fand Nele.
Die Mädchen sahen einander unsicher an.
„Was tun Sie da?“, fragte Nele.
„Ich schreibe.“ Er sah sie an. „Ich schreibe alles auf, was in der Welt passiert. Oder passieren soll, denn was ich schreibe, wird wahr. Ich habe eure Vergangenheit geschrieben und die Vergangenheit eurer Eltern und deren Eltern, kurz gesagt, ich habe die Vergangenheit der Menschen geschrieben. Und nicht nur die der Menschen, sondern die der ganzen Welt. Durch mich ist diese Welt so, wie ihr sie kennt, entstanden.“
„Leute, ich haue ab, wer weiß, auf war für Gedanken dieser Wahnsinnige noch kommt“, flüsterte Sina beunruhigt.
Der Greis sah die Drei aus weisen Augen an. „Ich bin nicht wahnsinnig, Sina. Es mag sich seltsam anhören, doch es ist wahr“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte Sina mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Ich kenne nicht nur deinen Namen, ich kenne alle Namen dieser Welt, denn sie sind meiner Feder entsprungen. Ich könnte euch zurückschreiben, in das Fachwerkhaus, in dem ihr eure Klassenfahrt verbringt.“
„Lasst uns verschwinden, ja? Das gefällt mir nicht“, hauchte Melanie verängstigt.
„Warte, vielleicht ist an seiner Geschichte etwas dran“, antwortete Nele leise und an den Mann gerichtet fragte sie: „Darf ich mal lesen, was sie da schreiben?“
Der Greis reicht ihr mit einem geheimnisvollen Lächeln sein dickes Buch.
Melanie und Sina beobachteten ihre Freundin, deren Blick immer ungläubiger wurde, bis sie das Buch langsam wieder auf das Pult legte.
„Er hat recht“, sagte sie tonlos.
„Ich weiß“, grinste der Mann. „Ich schreibe euch hier weg, wenn ihr wollt, ihr müsst mir nur vertrauen.“
„Gut“, murmelte Nele.
Lächelnd setzte der Greis die Feder auf die Seiten des uralten Buches und begann zu schreiben...

`Was für ein Kaff. Das wird die ödeste Klassenfahrt unseres Lebens´, dachte Nele und sah gelangweilt an der Fassade des uralten Fachwerkhauses hoch, in dem sie die nächste Woche verbringen sollten.

Zur nächsten Einsendung

Autorin / Autor: Sofia, 13 Jahre - Stand: 8. Juni 2010