Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Es ist Nacht, als sie ihn weckt. Sie hat kein Licht gemacht. Ihr Gesicht ist bleich im Dunkeln.
„Änna?“, murmelt er schlaftrunken. „Herrgott, was ist denn los?“
„Johann“, ist alles, was sie sagt. Er rappelt sich mühsam auf, er ist noch völlig verschlafen. Änna, nur mit einem dünnen Hemd bekleidet, steigt lautlos über die alten Matratzen. Er folgt ihr müde. Kälte dringt aus den Wänden. Der Flur liegt dunkel. In der Küche brennt Licht; durch den Türspalt fallen dünne, fahle Lichtstreifen und legen sich über Ännas nackte Füße.
„Geh schon ins Bett“, murmelt er, sich über die Augen fahrend, und drückt die Tür auf. Sie ist nicht verschlossen. Er verschließt die Türen nie; es hat ihnen das Leben gerettet, ihm und Änna.
Das Licht blendet ihn; er blinzelt mühsam und bleibt in der Tür stehen. Johann arbeitet oft bis spät in die Nacht. Manchmal bleibt er bei ihm und hilft ihm mit den Akten.
„Es ist spät“, sagt Itzhak nach einer Weile. „Komm schlafen.“
Johann schweigt. Er hat seinen Mantel über den Stuhl gehängt. Er geht zu ihm, die Arme um die Schultern geschlungen, er friert, und setzt sich zu ihm an den Küchentisch. Das Licht ist noch immer viel zu grell in seinen müden Augen.
„Ich dachte, du schläfst längst“, sagt Johann. Seine Stimme klingt so fremd; er ist so bleich, als habe er Tage nicht geschlafen. Er erhebt sich, zieht den Mantel über, seine Bewegungen sind schwer und ungelenk. Er sieht ihn ungnädig an, als er schweigt, und nimmt die Papiere vom Tisch. Er verzieht verächtlich die Mundwinkel. „Kann Änna immer noch nicht mit Licht schlafen?“
„Johann“, sagt er, aber der andere lässt ihn stehen.
In den Nächten, in denen es besonders kalt ist, schläft Änna an Itzhak gedrängt. Er kriecht zu ihr unter die Decke; sie dreht sich zu ihm und mustert ihn fragend im Dunkeln. Itzhak erwidert ihren Blick nicht. Änna hasst Johann, und er hasst sie seit dem Tag, da Johann sie beide hat bleiben lassen.
„Herrgott, Schmitt, unverschlossene Türen locken das Gesindel erst recht an!“ Sie haben die Männer lachen hören mit ihrem grollenden riesigen Schäferhund. „Vergessen Sie nicht, melden Sie, wenn was ist.“
„Ich verrate euch schon nicht“, hat Johann ungnädig gesagt, als Änna zu heulen angefangen hat. Und seitdem hat er es nicht getan. Änna denunziert er nur wegen Itzhak nicht; für ihn ist sie nichts als eine dumme Hure. Er schlägt sie, wenn Itzhak nicht rechtzeitig dazwischen geht.
Johann bringt ihnen Bücher mit. Änna zeichnet auf dem Papier, um das Itzhak Johann bittet, und näht für die beiden Männer. Itzhak hilft ihr bei der Wäsche, Johann auch, wenn er Zeit findet, und meist ist er es, der für die beiden kocht. Abends liest Itzhak manchmal vor, und hin und wieder schläft er neben Johann auf der durchgelegenen Matratze oder in seinem Bett, auch wenn Änna ihn hasst dafür, dass er es tut.
Als die ersten Bomben fallen, ist es Nacht. Dumpfe Explosionen erschüttern den Boden. Putz rieselt auf sie herab. Er rappelt sich von der Matratze auf, der Boden schwankt unter seinen Füßen. Änna packt ihn und zerrt ihn mit sich, barfuß hinaus in den eisigen, schwarzen Flur.
„Komm schon!“, brüllt sie. Ihre Worte gehen halb in der nächsten Detonation unter. „Raus!“
„Johann!“ Er macht sich von ihr los. „Johann!“
Sie schreit, aber er hört nicht, was. Er brüllt wieder und wieder nach Johann, aber alles ist schwarz um ihn herum. Die fallenden Bomben jagen wuchtige Erschütterungen durch die Nacht. Es ist wie in einem Albtraum.
Als er ihn endlich findet, kauert Johann am Boden, hat den Kopf auf die Knie gelegt und weint. Es ist ein ganz leiser, fast stiller Laut, voll bitterlichem Kummer. Seine Finger sind blutig im Schein einer flackernden Petroleumlampe zu seinen Füßen. Die Explosionen scheinen aufgehört zu haben, wenigstens für einen Augenblick, vielleicht sind sie ihnen schon ausgegangen, die Bomben; Johann hebt den Kopf von den Armen. Sein Gesicht ist bleich, seine Augen völlig verweint.
„Was machst du denn hier“, sagt er mit brüchiger, schwacher Stimme. Itzhak starrt ihn an. Johann umklammert etwas mit blutverschmierten Fingern. Es ist ein Foto.
Er weiß nicht, ob es Schreie sind in der Nacht; Johann verzieht das Gesicht zu einem verzweifelten Lächeln. Tränen rinnen ihm über die Wangen. Er versucht sich mit dem Handrücken über die Augen zu wischen, aber seine Finger zittern zu sehr, schmieren Blut auf seine Stirn. Seine Schultern zucken, er atmet verschluckt, schluchzend.
„Es ist a-alles meine Schuld“, bringt er hervor. Tränen laufen ihm übers Gesicht. „Er wo-wollte mit mir weg, e-er ha-hat immer gesagt, wir könnten zusammen glücklich we-werden. S-sie haben mir gesagt, dass i-ich n-nur nicht verhaftet werde, weil ich immer pa-parteitreu gewesen bin.“ Er weint jetzt bitterlich. Und Itzhak begreift, warum. Wer jemanden zurück erwartet, der verschließt keine Türen. „Es ist m-meine Schuld.“
Die Explosion reißt Itzhak von den Füßen. Er stürzt, das Glas der Lampe splittert, er kommt mühsam auf die Beine, brüllt seinen Namen, aber es ist, als habe die Detonation seine Stimme verschluckt. Den kalten, nackten Flur erleuchten fahl die Explosionen. Die Tür schlägt ihm in den Rücken.
Die letzte Detonation hört er nicht mehr. Jemand schlingt die Arme um ihn. Er hört Schreien. Vielleicht ist es Johann, vielleicht ist es Änna.
Es ist Nacht, als er ihn weckt. Er hat kein Licht gemacht. Sein Gesicht ist bleich im Dunkeln.
„Johann?“, murmelt er schlaftrunken. Er ist noch völlig verschlafen. Kälte dringt aus den Wänden, und er sehnt sich nach seiner Wärme. Johann schweigt. „Er kommt nicht zurück.“
„Ich weiß“, ist alles, was der Mann sagt.
Die Tür ist verschlossen; Johann kriecht zu ihm unter die Decke und legt die Arme um ihn. Die Nacht ist wider Erwarten still, und Itzhak schließt beruhigt die Augen; nach einer Weile sind sie eingeschlafen.
Autorin / Autor: Nachtblick, 17 Jahre - Stand: 15. Juni 2010