Das Ticken der Zeit

Wettbewerbsbeitrag von Leona Schüler, 14 Jahre

„Ich möchte aber noch nicht schlafen gehen, Mama!“, protestierte ihre Tochter und drehte sich zur Tür um. „Es ist schon spät, Andromeda“, antwortete Giselle mit sanfter Stimme, „Du bist heute schon viel zu lange auf gewesen.“ „Aber ich muss doch sowieso nie mehr zur Schule!“, argumentierte Andromeda. Giselle schluckte. Kinder konnten so verdammt ehrlich sein. Mit einer Hand am Türknauf stand Giselle da und überlegte, während ihre Tochter sie hoffnungsvoll ansah. Der sich monoton wiederholende Piepton von Andromedas EKG-Überwachungsgerät unterbrach ihre Gedankengänge. Sie betrachtete ihre kleine Tochter, die all diese Strapazen über sich ergehen lassen musste, während ihre Mutter nur hilflos danebenstehen konnte. „Okay“, gab Giselle schließlich nach und lächelte. Sie konnte ihrer Tochter schon vor der Krankheit nichts ausschlagen. „Aber nur noch eine Geschichte“, mahnte sie, bevor sie sich auf die Bettkante setzte. „Ja!“, rief Andromeda begeistert aus. Doch durch das laute Rufen geriet sie gleich darauf in einen Hustenanfall. Andromeda hatte diese Anfälle oft, doch die Ärzte sagten, man könne nichts dagegen tun. So sei es nun mal, wenn man sich mit Viren von einem Planeten in einem anderen Sonnensystem infizierte, niemand wisse, wie einem zu helfen sei. Nachdem sich ihre Tochter wieder beruhigt hatte, wischte Giselle ihr das ausgehustete Blut mit einem Taschentuch von den Mundwinkeln. Sie bemühte sich dabei, vor ihrer Tochter nicht zu weinen. Andromeda lief die Zeit davon, sie befand sich bereits im Endstadium, das wusste Giselle. „Welche Geschichte möchtest du denn hören? Vielleicht die von der Mondprinzessin?“, fragte Giselle und lächelte ihre Tochter an, damit sie ihre glasigen Augen nicht bemerkte. „Nein, die kenne ich doch schon!“, lehnte sie ab. „Dann vielleicht die Geschichte des Marsianers?“ „Ne, die hatten wir auch schon so oft.“ „Was für eine Geschichte soll ich dann erzählen?“ Andromeda überlegte kurz. „Ich möchte eine spannende Geschichte hören. Eine Geschichte, bei der man was lernen kann“, verkündete sie, „Vielleicht eine, bei der ich etwas über deine Arbeit lerne.“ Giselle musste schmunzeln. Immer wieder erkannte sie den Wissensdrang, den sie selbst als kleines Kind in sich getragen hatte, in ihrer Tochter wieder. Und gleichzeitig machte dies sie traurig. Sie dachte oft darüber nach, was für eine großartige Wissenschaftlerin ihre Tochter vielleicht geworden wäre, wenn Giselle die Erde niemals verlassen hätte, um Teil der ersten menschlichen Kolonie auf Asklepos, einem Exoplaneten im Doppelsternsystem Alpha Centauri, zu werden. Wie Andromedas Zukunft wohl ausgesehen hätte, wenn Giselle sie vor den tödlichen Viren des Planeten beschützt hätte, mit denen damals niemand gerechnet hatte. „Ich glaube, dass das ein bisschen schwer zu verstehen sein wird“, sagte ihre Mutter und verbarg ihren Kummer hinter einem weiteren Lächeln. „Versuch es“, forderte ihre Tochter sie auf und sah sie mit erwartungsvoll großen Augen an. Giselle überlegte, wie sie die Aufgaben einer Quantenphysikerin wohl einem Kind erklären sollte.  „Okay. Wie wäre es, wenn ich dir davon erzähle, wie alles angefangen hat?“, fragte Giselle schließlich. „So richtig alles?“ „Ja, so richtig alles. Unser gesamtes Universum.“ „Au ja!“, rief Andromeda, diesmal etwas behutsamer. Giselle begann: „Genauso wie du, hat auch unser Universum mal ganz klein angefangen. Am Anfang unseres Universums gab es nichts, bis auf einen kleinen Punkt. Nennen wir den Punkt mal Jan.“ „Nein, Bob!“ „Mein Fehler. Also Bob der Punkt war ganz allein, dafür hatte er aber ganz viel Energie. Er hatte so viel Energie, dass er sie gar nicht halten konnte. Und irgendwann, da hat Bob angefangen, sich ganz schnell auszudehnen. Er ist also immer größer und dicker geworden. Bob ist unser Universum, der sogenannte Raum. Aus der ganzen Energie, die Bob in sich getragen hat, sind dann die Zutaten für alles in unserem Universum entstanden. Für Asklepos, für die Erde und auch für dich und mich, denn wir bestehen alle aus Zutaten, wie ein großer Kuchen.“ „Igitt! Wir bestehen also aus Bobs Innereien?“, fragte Andromeda kichernd. „Ja genau“, schmunzelte Giselle zurück und diesmal war es ein ehrliches Schmunzeln. „Und das, was diese Zutaten zusammenhält, ist auch damals entstanden, die sogenannten Kräfte.“ „Wie zum Beispiel die Schwerkraft? Darüber forschst du doch gerade, oder?“, fragte ihre Tochter ganz aufgeregt. „So in etwa. Ich forsche über winzig kleine Kugeln, die Gravitonen. Sie sind für die Schwerkraft verantwortlich und wurden vor langer Zeit von einem bedeutenden Forscher nachgewiesen“, erklärte ihre Mutter. „Gibt es für jede Kraft solche komischen Kugeln?“, fragte Andromeda interessiert. „Vereinfacht gesagt schon“, antwortete Giselle. „Ist die Zeit auch eine Kraft?“ Giselle setzte gerade zu einer Antwort an, doch dann fiel ihr Blick auf die Uhr. „Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit zu schlafen“, teilte sie Andromeda mit, die daraufhin traurig dreinblickte. Sie erhob sich vom Bett, drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Andromeda, schon halb schlafend, ganz leise fragte: „Falls die Zeit eine Kraft ist, hat sie dann auch eigene Kugeln?“ Giselle stoppte. „Ich-“, setzte sie an, doch dann bemerkte sie das leise Schnarchen ihrer Tochter. Sie schloss die Tür hinter sich, behielt ihre Hand jedoch noch einige Sekunden auf dem Türknopf. „Könnte es sein? Zeitteilchen?“, fragte sie sich. Es war nur die simple Frage eines Kindes im Grundschulalter und dennoch brachte sie Giselle zum Nachdenken. Was wäre, wenn…? Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Die Zeit als Kraft zu sehen, klang nach einer grotesken Vorstellung. Schließlich gehörte sie zur Raumzeit. Das ließ sich mit den Gleichungen keinesfalls vereinbaren, oder? Doch was wäre, wenn es ein Zeit-Quantenfeld gab? Ein Quantenfeld genau der Zeit, die ihrer Tochter so schnell davonlief? Gab es dann auch Zeit-Teilchen? Wäre die Zeit dann vielleicht beeinflussbar?

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Leona Schüler