Sie steht auf dem Sprungbrett, die Arme über dem Kopf gestreckt und hüpft auf und ab – immer wieder auf und ab, aber nicht ins Wasser. Zwei Jungen treten aus der Warteschlange und rufen ihr zu, sie solle endlich ins Becken springen. Sie dreht sich nicht um. Das Sprungbett knarzt unter ihren dünnen Beinen, bis sie langsamer wird und umkehrt. Sie läuft zurück, über die Treppe, an mir vorbei. Ich sehe sie an und hole tief Luft. „Wieso bist du nicht ins Wasser gesprungen?“, frage ich. Sie schaut zurück, ein bisschen schelmisch, ein bisschen schüchtern. Dann greift sie meine Hand und zieht mich zum Beckenrand. „Ich wollte schweben“, sagt sie, „aber die Schwerkraft hat gewonnen“.
Wir spazieren über den Campingplatz zu dem blauen Bus, in dem sie wohnt. Auf einem wackeligen Tisch breiten wir unsere Schätze aus dem Freibadkiosk aus. Ich schütte Bonbons und Gummitiere aus einer Papiertüte. „Sperr mal deinen Mund weit auf“, sagt sie und zielt mit einem Brause-Ufo auf mich. Während es fliegt, macht sie ein zischendes Geräusch. Es prallt an meinen Lippen ab und fällt zurück auf den Tisch. „Bruchlandung“, rufe ich und stecke es in den Mund. Das Ufo schmeckt sauer und knistert. „Wenn ich älter bin, werde ich Astronautin“, sagt sie. Ich überlege beim Kauen. „Dann werde ich Außerirdische“, beschließe ich.
Aus Zeitungspapier bauen wir ihr einen Raumanzug. Wir fixieren ihn mit silbernem Klebeband, das im Sonnenlicht glänzt. Ich renne zum Zelt. Dort zerre ich meinen Fahrradhelm und den Schlafsack heraus, ein grünes Ungetüm. Mit Wäscheleine binde ich ihn um meinen Körper. „Ich bin ein Marsmädchen“, sage ich zu ihr. Von meinem Helm stehen zwei Stöcke ab, die ich festgeklebt habe. „Denkst du, dass Außerirdische Antennen haben?“, fragt sie und kneift die Augen zusammen. „Du findest das albern“. Ich breche einen der Stöcke ab. „Nein“, beschwichtigt sie mich, „ich frage mich bloß, wie außerirdisches Leben aussieht“. Ich laufe los in Richtung der Schaukeln, sie folgt mir. „Aliens könnten klein sein wie Feuerwanzen“, sage ich. „Oder ihnen wachsen Stöcke aus dem Kopf“. Sie stuppst mich mit ihrem Zeigefinger an.
Ich lasse mich auf die höhere der beiden Schaukeln fallen, sie setzt sich auf die andere. „Flieg mit mir zum Mars“, sage ich und stoße mich mit den Füßen ab. Ich lehne meinen Oberkörper weit zurück und hole Schwung. „Wenn wir Glück haben, sind wir knapp acht Monate unterwegs“, ruft sie, „je nachdem, wie nah sich Erde und Mars gerade sind“. Auf unseren Schaukeln schießen wir in den Orbit und höher in Richtung roter Planet. Ich stelle mir vor, wie unter mir alles kleiner wird: das Freibad, die Zelte und Busse, der Kiosk, die Menschen. Wie alles schrumpft und mit der Landschaft verschmilzt.
Am höchsten Punkt löse ich meinen Griff und lasse die Schaukelseile los. Ich fliege in meinem Schlafsack-Kokon oder schwebe ich schon, jenseits von oben und unten? Meine Füße prallen auf und ich kippe vornüber in den warmen Sand. Mit ausgestreckten Armen fange ich mich ab. Sie landet neben mir und ihr gelingt es, das Gleichgewicht zu halten. Eine Zeitungsseite hat sich aus ihrem Kostüm gelöst und segelt zu Boden. „Uns ist die Marslandung geglückt“, triumphiert sie, „unser Hitzeschild hat der dünnen Atmosphäre getrotzt“. Sie lässt sich neben mich in den Sand fallen. Drei Jugendliche kichern über uns im Vorbeigehen. Diesmal drehe ich mich nicht um.
Wir liegen im Sandkasten und starren in die Dämmerung, in der sich die ersten Sterne zeigen. „Ich glaube, ich kann diese Weite nicht greifen“, sage ich. Sie nickt nachdenklich. „Wusstest du, dass wir gerade in die Vergangenheit sehen?“, fragt sie mich. Ich lache über diese Vorstellung. „Zeitmaschinen gibt es nicht“, antworte ich und nehme meinen Helm ab. Sie zeigt nach oben. „Der Stern da könnten längst verglüht sein“, sagt sie, „und wir sehen ihn nur, weil das Licht so lange zu uns reist“. Ich bin nicht sicher, welchen der Sterne sie meint.
„Manchmal habe ich Angst vor dem Nachthimmel, weil er so viele Geheimnisse trägt“, flüstere ich, „und manchmal beruhigt mich das“. Sie greift meine Hand und drückt sie kurz. Ich drehe meinen Kopf zu ihr und sehe sie an. „Vielleicht treffen wir uns wieder auf dem Mars“, sagt sie. Dann steht sie auf und wir wünschen uns eine gute Nacht. Als ich am nächsten Morgen zu ihrem Bus laufe, sind da nur vier Abdrücke im Gras, wo die Räder standen.